Swetlana Tichanowskaja gibt sich keinen Illusionen hin. Ihr sei vollkommen klar, dass sie in ihrer Person „Gift für den Kreml“ sei. So sagte es die Anführerin der belarussischen Opposition am Montag am Rande eines Berlin-Besuchs. Sie sieht sich demnach nicht nur mit Alexander Lukaschenko konfrontiert, dem Diktator in Minsk, der sie mit aller Macht bekämpft. Auch der russische Präsident Wladimir Putin habe sie längst auf dem Zettel. Mit ihrer Wortwahl spielte sie zugleich auf den Giftanschlag auf Kremlkritiker Alexei Nawalny im Sommer an, auf dem Höhepunkt der Belarus-Krise. Schwebt Tichanowskaja also in Lebensgefahr?
Tatsächlich sollte man mit Blick auf all die ermordeten, eingekerkerten und gefolterten Regimegegner in Russland und Belarus jederzeit auf alles vorbereitet sein. Noch während Tichanowskaja am Montag in der Bundeshauptstadt weilte, veröffentlichte ein internationales Team investigativer Journalisten neue Recherchen zum Fall Nawalny. Demnach wurde der Anti-Korruptions-Aktivist über Jahre hinweg gleich von einer ganzen Mannschaft von FSB-Agenten verfolgt und schließlich mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet.
Nawalny-Enthülllungen sollten ein Weckruf für den Westen sein
Die Enthüllungen sollten ein weiterer Weckruf für den Westen sein. In der deutschen Politik und auch in der EU rangiert der Komplex Belarus-Russland derzeit allerdings unter „ferner liefen“. Angesichts der eskalierenden Corona-Pandemie nimmt kaum noch jemand zur Kenntnis, wie bitterernst die Menschenrechtslage im Osten Europas weiterhin ist. Das zeigte auch Tichanowskajas Deutschland-Besuch. Der eher stille Verlauf stand in krassem Gegensatz zu dem enthusiastischen Empfang vor zwei Monaten.
Natürlich ist es nicht nichts, wenn man von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen wird. Und es ist auch richtig und wichtig, dass das EU-Parlament am Mittwoch den Sacharow-Menschenrechtspreis an die belarussische Opposition verleiht. Entscheidend aber ist die Handlungsebene, und da passiert derzeit wenig bis nichts. Tichanowskaja sagte es in Berlin genau so: „Es gibt viele Worte der Unterstützung. Wir brauchen aber Taten.“ Ganz oben auf ihrem vorweihnachtlichen Wunschzettel standen neue Sanktionen. Angesichts von 30.000 Inhaftierten und ungezählten Folteropfern in Belarus wirkten die bisherigen Strafen „lächerlich“, sagte sie. Das waren harte, von Enttäuschung zeugende, aber wahre Worte.
Tichanowskaja unterscheidet inzwischen sehr genau zwischen Schein und Sein
Der Auftritt zeigte nicht zuletzt, welch steile Lernkurve Tichanowskaja in den zwei Monaten seit ihrem ersten Berlin-Besuch genommen hat. Im Oktober bekannte sie noch, zu wenig über die Gepflogenheiten der internationalen Politik zu wissen. Inzwischen unterscheidet sie sehr genau zwischen Schein und Sein. Und je bitterer die Lage in Belarus ist, desto schwerer erträglich findet sie offenbar das Gerede, das sie sich in Westeuropa anhören muss.
Tichanowskaja ist erst 38 Jahre alt. Sie ist eine junge Lehrerin und zweifache Mutter, die nie Politikerin werden wollte. Bei der Präsidentschaftswahl im August trat sie zunächst nur deshalb gegen Lukaschenko an, weil der ihren Mann Sergei ins Gefängnis hatte werfen lassen. Inzwischen weiß sie aber längst, dass sie sich mit ihrer Präsidentschaftskandidatur eine Herkulesaufgabe aufgeladen hat. Ob sie, im Zusammenspiel mit den geknechteten Menschen in ihrer Heimat, aber ohne echte Hilfe aus dem Westen, die postsowjetische Hydra irgendwann zur Strecke bringen kann, ist offen. Immerhin hat Tichanowskaja aber schon jetzt gezeigt, dass so ein kämpfender Herkules im 21. Jahrhundert auch eine Frau sein kann.
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