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Kommentar: Bund und Länder sollten weniger anordnen und mehr abwägen

Kommentar

Bund und Länder sollten weniger anordnen und mehr abwägen

Rudi Wais
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    Ab dem 2. November sollen verschärfte Corona-Maßnahmen in Kraft treten. So müssen etwa Restaurants, Bars und Clubs wieder schließen.
    Ab dem 2. November sollen verschärfte Corona-Maßnahmen in Kraft treten. So müssen etwa Restaurants, Bars und Clubs wieder schließen. Foto: Henning Kaiser, dpa

    Bismarck hat sich geirrt. Vom eisernen Kanzler stammt der schöne Satz, Politik sei die Kunst des Möglichen – ein ständiger Ausgleich der Interessen, der durch Kompromisse Akzeptanz schafft anstatt ins Extreme zu verfallen. In ihrem Bemühen, den Anstieg der Infektionen zu bremsen, macht die deutsche Politik nun allerdings schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres auch vermeintlich Unmögliches möglich: Obwohl die Zahlen noch weit unter denen anderer Länder liegen, zwingen Bund und Länder die Republik in den faktischen Stillstand.

    Das kann man vorausschauend nennen, besonders vorsichtig oder der Situation geschuldet – erklärungsbedürftig ist es allemal. Dass der Zorn draußen, im Land, diesmal deutlich größer ist als beim ersten Lockdown im Frühjahr, liegt an den vielen Widersprüchen, die das am Mittwoch beschlossene Maßnahmenpaket in sich birgt. Warum, zum Beispiel, dürfen Kinder und Jugendliche vormittags zur Schule, nachmittags aber nicht ins Training ihres Fußballvereins? Warum kann ein Friseur seinen Salon offen lassen, während das Nagelstudio nebenan für vier Wochen schließen muss? Warum bleiben Restaurants und Gaststätten jetzt zu, obwohl das Robert-Koch-Institut mehrfach darauf hingewiesen hat, dass deren Hygienekonzepte funktionieren?

    Corona-Regeln: In anderen Ländern sind die Regierungen viel lockerer

    Andere Länder, die teilweise um einiges höhere Inzidenzen haben, gehen mit solchen Fragen gelassener um. Die Schweiz etwa schränkt die Freiheit ihrer Bürger mit Sperrstunden und Obergrenzen für die Teilnahme an Feiern und Veranstaltungen ebenfalls ein, lässt die Gastronomie aber (noch) offen. In Österreich wiederum hat die Regierung ihren Bürgern eine Art Ultimatum gestellt: Solange ein bestimmter Wert nicht übertroffen ist, in diesem Fall 6000 Neuinfektionen an einem Tag, geht das Leben mit den bisherigen Einschränkungen weiter. Damit haben es die Österreicher (noch) selbst in der Hand: Entweder sie verhalten sich vernünftig und diszipliniert – oder auch sie müssen in den Lockdown.

    Obwohl Gerichte Sperrstunden, Alkoholverbote und ähnliche Einschränkungen reihenweise kassiert haben, haben sich Bund und Länder auch diesmal für ein ebenso hartes wie pauschales Herunterfahren des öffentlichen Lebens entschieden, ohne Gefühl für die Verhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen, dafür aber mit einem mahnend erhobenen Zeigefinger: Weihnachten ist in Gefahr! Wer aber kann heute schon verlässlich sagen, ob die Zahlen bis Weihnachten tatsächlich sinken oder ob der zweiten Welle und dem zweiten Lockdown nicht noch eine dritte Welle und ein dritter Lockdown folgen?

    Wenn aus der Infektions- keine Vertrauenskrise werden soll, muss die Politik mehr abwägen

    Umso wichtiger wäre es, vor jeder Einschränkung neu zu prüfen, ob der Zweck die Mittel heiligt oder ob sie am Ende nicht ins Gegenteil führt. Wenn Restaurants und Kneipen jetzt geschlossen werden: Steigt dann nicht das Risiko, dass sich mehr Menschen privat treffen, unkontrollierbar und ohne Abstand? Wenn Kindergärten und Schulen partout offen bleiben sollen: Tragen die Kinder einer Klasse das Virus dann im ungünstigsten Fall nicht in Dutzende von Familien hinein? Und warum müssen in Bundesländern mit niedrigeren Infektionszahlen um jeden Preis die gleichen Regeln gelten wie in Bayern, Berlin oder Nordrhein-Westfalen? Opfern wir mit unserer Freiheiten den Föderalismus gleich mit?

    Wenn aus der Infektionskrise keine große Vertrauenskrise werden soll, muss die Politik künftig mehr abwägen und weniger anordnen. Die meisten Menschen in Deutschland passen ihr Verhalten den Erfordernissen auch freiwillig an. Gegen die, die sich aus Dummheit, aus Naivität oder aus Prinzip anders verhalten, helfen nur strenge Kontrollen und hohe Bußgelder.

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