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Koalition: Schicksalstage einer Kanzlerin

Koalition

Schicksalstage einer Kanzlerin

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    Sparkurs: Merkel scheut den Streit mit Obama nicht
    Sparkurs: Merkel scheut den Streit mit Obama nicht Foto: DPA

    Der Humus, auf dem Verschwörungstheorien gedeihen, ist in Berlin in diesem Sommer besonders fruchtbar. Eine von ihnen hat sogar schon den flüchtigen Segen der Demoskopie: Für den Fall nämlich, dass Angela Merkel und Guido Westerwelle ihren Kandidaten Christian Wulff bei der Wahl des neuen Bundespräsidenten nicht durchbringen und zurücktreten sollten, hat das Forsa-Institut schon den einzig denkbaren Ersatzkanzler ermittelt. Jeder dritte Deutsche wünscht sich dann Karl-Theodor zu Guttenberg als Regierungschef. Es folgen, weit abgeschlagen, Sozialministerin Ursula von der Leyen und Finanzminister Wolfgang Schäuble.

    Das Idol der frustrierten und zurückgelassenen Wähler verfolgt solche Spekulationen mit wachsendem Groll. "Völliger Unsinn" sei das, wehrt Guttenberg ab. "Wir haben eine Bundeskanzlerin und wir haben eine Regierung."

    In den turbulenten Wochen nach dem Rücktritt von Horst Köhler allerdings war kaum ein Gerücht zu abwegig und kaum eine Verschwörungstheorie zu abstrus, um nicht doch von irgendjemandem gehört und verbreitet zu werden. So, vor allem, ist der populäre Verteidigungsminister innerhalb weniger Tage zum gefühlten Kronprinzen der Kanzlerin aufgestiegen - selbst wenn die nicht im Geringsten ans Abdanken denkt.

    Andererseits weiß auch Angela Merkel, dass es am Mittwoch nicht nur um die Nachfolge von Köhler geht, sondern auch um die Zukunft ihrer Koalition, und damit nicht zuletzt um ihre eigene. Gewinnt Wulff bereits im ersten Wahlgang, hat die CDU-Vorsitzende aus ihrer Sicht alles richtig gemacht. Einen Erfolg im zweiten Wahlgang könnte sie sich noch irgendwie schönreden. Ein dritter Wahlgang jedoch wäre für Union und FDP eine politische Blamage ohnegleichen - egal, welcher Kandidat am Ende triumphiert, der Freiheitskämpfer aus Rostock oder der Parteisoldat aus Osnabrück.

    In der allgemeinen Euphorie über die Auftritte des ehemaligen Bürgerrechtlers Joachim Gauck wirkt Merkels bisheriger Kronprinz Wulff ja auf einmal seltsam bieder und blass und die vergleichsweise komfortable Mehrheit von 21 Mandaten in der Bundesversammlung besorgniserregend klein. Es ist, als habe ein alter Slogan aus der Autowerbung plötzlich politische Aktualität erlangt: Nichts ist unmöglich …

    Dabei hat Gauck, nüchtern betrachtet, keine Chance. Von einem halben Dutzend Freidemokraten weiß man mehr oder minder zuverlässig, dass sie ihn wählen wollen - dann aber fehlen immer noch 15 Stimmen aus dem Lager der Regierungsparteien, wenn nicht mehr. Menschlich und beruflich, sagt sogar einer, der Gauck selbst mit ausgewählt hat, habe Christian Wulff natürlich das Zeug zum Präsidenten. "Und er ist auch nicht so naiv wie Köhler." Andererseits aber habe die CDU-Vorsitzende Merkel bei der hektischen Suche nach einem geeigneten Kandidaten "alle Fehler dieser Welt gemacht".

    Ihr ging es nicht darum, in einer schwierigen Situation einen über die Grenzen der politischen Lager hinweg geschätzten Bewerber zu finden, sondern einen, mit dem sie den Betriebsfrieden in ihrer Koalition wahrt. Dazu noch der ständige Streit um das Sparpaket, die desolaten Umfragewerte der FDP und der Wirbel um die Beinahe-Präsidentin von der Leyen, dem niemand rechtzeitig Einhalt gebot: Es ist einiges schiefgelaufen in der sonst so perfekt programmierten Machtmaschine der Angela Merkel. Und an Wulff, einem der beliebtesten Politiker der Union, klebt nun der Makel der Verlegenheitslösung, des kleinsten gemeinsamen Nenners.

    Gauck, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel gelobt, habe ein Leben vorzuweisen, Wulff nur eine politische Laufbahn. Erster Mann im Staate, so der unausgesprochene Vorwurf dahinter, wird der 50-Jährige womöglich nur deshalb, weil es vorher zwischen Union und FDP so ausgekungelt wurde - und nicht, weil er vielleicht doch der Richtige ist.

    Der Kandidat selbst lächelt solche Bedenken routiniert weg. Zusammenführen, Brücken bauen, Gräben zuschütten, auf die Zwischentöne achten: "Die Aufgaben des Bundespräsidenten", findet Christian Wulff, dem zum Kanzler nach eigenem Eingeständnis das Alpha-Gen eines Gerhard Schröder oder eines Roland Koch fehlt, "entsprechen meinen Fähigkeiten." Während sein Kontrahent Gauck das Feuilleton und das politische Establishment bis weit in die konservativen Kreise hinein begeistert, hat er einfach unaufgeregt weiterregiert. Seine jährliche Sommerreise durch Niedersachsen hat er nicht abgesagt, weil er jetzt anderes im Sinn hat, sondern kurzerhand in eine kleine, subtile Imagekampagne in eigener Sache umgewidmet. Ein Ministerpräsident zum Anfassen ist da in Ronnenberg, Celle oder Aurich zu sehen, einer mit Bodenhaftung. Vielleicht nicht so intellektuell wie sein Rivale, aber nahe bei den Menschen.

    Sigmar Gabriel hat am Anfang ganz ähnlich gedacht und den Grünen als gemeinsamen Kandidaten zuerst den brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck vorgeschlagen, den Wulff der Sozialdemokratie, wenn man so will. Für Jürgen Trittin, Renate Künast und viele andere Spitzengrüne allerdings war da schon klar: Entweder eine Frau als gemeinsame Kandidatin von Rot-Grün - oder Gauck. Einen der Helden des Wendeherbstes 1989, bürgerlich bis ins Mark, hüben wie drüben geschätzt und ein begnadeter Redner obendrein. Einer, der von sich sagt, in seiner Kandidatur drücke sich "das Bedürfnis nach Vertrauen und Glaubwürdigkeit" aus. Mit der Politik, klagt der 70-Jährige, machten die Menschen im Moment mancherlei negative Erfahrungen. "Deshalb sucht sich jeder seine Hoffnungsfiguren."

    So gesehen ist Christian Wulff jetzt die Hoffnungsfigur von Angela Merkel und Guido Westerwelle. Mit seiner Wahl wollen Kanzlerin und Vizekanzler beweisen, dass Union und FDP noch die Kraft und die Autorität haben, um einem Präsidenten ihrer Provenienz ins Amt zu verhelfen. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Scheitert Wulff, ist die Autorität der beiden perdu, innerhalb wie außerhalb ihrer Parteien. "Dann", prophezeit ein Regierungsmitglied der CDU, "fliegt uns der Laden hier um die Ohren." Es ist der Punkt, an dem die Verschwörungstheoretiker ins Spiel kommen. Hat die

    Natürlich hinkt der Vergleich gewaltig - und doch hat Horst Köhlers Rückzug einiges durcheinandergewirbelt im politischen Berlin. Sigmar Gabriel, der in den offenen Wunden von Union und FDP besonders lustvoll rührt, verlangt bereits Neuwahlen, obwohl auch er weiß, dass die verfassungsrechtlichen Hürden dafür zu hoch sind und der Bundespräsident, der wenige Wochen nach seiner Wahl gleich den Bundestag auflöst, erst noch gefunden werden müsste. Der politische Preis allerdings ist nichtsdestotrotz hoch. Wer den Kandidaten von SPD und Grünen wähle, sagt der Christdemokrat Kurt Biedenkopf, ein flammender Gauck-Fan, riskiere damit das Scheitern der Bundesregierung. Und so gesehen, findet der frühere sächsische Ministerpräsident, hat Deutschland am Mittwoch zwar die Wahl. "Aber das ist keine freie Wahl mehr."

    644 Delegierte stellen CDU, CSU und FDP in der Bundesversammlung. Sie alle wissen: Jeder von ihnen, der für Joachim Gauck stimmt, stimmt damit automatisch gegen Guido Westerwelle und Angela Merkel. Von Rudi Wais

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