Manchmal geht es eben doch ganz schnell. Kaum hatten die Karlsruher Richter ihr Urteil gesprochen, legte die Politik den Klima-Turbo ein. Treibhausgasreduktion um 65 Prozent bis zum Jahr 2030. Klimaneutralität bis 2045. Der politische Elan setzt nicht ganz freiwillig ein, schließlich gibt es nicht nur den Verweis des Bundesverfassungsgerichtes, sondern auch noch die Vorgabe des „Green Deals“ der Europäischen Union. Dennoch staunen Beobachter über die Geschwindigkeit, in der jahrelange Diskussionsthemen mit einem Mal festgezurrt werden. Tatsächlich hatte noch nicht einmal die Jahrhundert-Krise der Pandemie es geschafft, das Thema Umweltschutz komplett aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Zwar lockerte sich in den vergangenen Monaten nicht nur der öffentliche Druck, sondern auch das Verhalten vieler Bürger orientierte sich weniger an der Umwelt als zuvor: Mehr Müll durch Lieferdienste, weggeworfene Masken in den Grünanlagen. Doch kaum sinkt die Zahl der Corona-Neuinfektionen, wächst auch wieder das Bewusstsein für das Dauerthema Klima. Es entwickelt sich vom Immer-mal-wieder-Thema zu einer politischen und gesellschaftlichen Konstante.
Mal war es der saure Regen, dann Bilder von auf schmelzenden Eisschollen dahintreibenden Eisbären. Sterbende Bienen, in Plastik verhedderte Meeresschildkröten, abgeholzte Regenwälder – die Betroffenheit war stets groß, doch die Bereitschaft zur Veränderung gering. Die Politik verlor sich in Symbolen und Phrasen. Bei allen Schwächen des Systems: Dies scheint sich zu ändern. Parteien liefern sich ein regelrechtes Wettrennen um grüne Wahlkampfinhalte, Zentralbanken veröffentlichen Klimaszenarien, das Bundesverfassungsgericht diktiert einen regelrechten Klima-Generationenvertrag. Galt nachhaltiges Wirtschaften bislang als teurer Luxus, wird heute die Devise ausgegeben: Wenn wir jetzt nicht umsteuern, wird es umso teurer. Sind wir vielleicht gerade sogar Zeitzeugen eines historischen Prozesses?
Klimabewusstsein vergleichbar mit anderen historischen Momenten
„Es ist eindeutig ein gesellschaftlicher Kipppunkt, zumindest in der deutschen Klimapolitik und es ist sehr wahrscheinlich, dass andere Länder diesem Beispiel folgen werden“, sagt Ilona Otto, Professorin für gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels an der Universität Graz. Ein Kipppunkt, hinter den weder die Gesellschaft noch die Politik wieder zurückfallen können. „Wahrscheinlich ist dieser Wandel vergleichbar mit anderen wichtigen historischen Momenten, wie zum Beispiel der Erteilung des Frauenwahlrechts oder dem Verbot von Kinderarbeit, die breitere kulturelle und wirtschaftliche Veränderungen vorangetrieben haben“, sagt Otto.
Die Gesetzesänderungen würden zwar von Juristen vorgenommen, aber sie wären nicht möglich gewesen ohne den Druck, der von sozialen Bewegungen wie „Fridays for Future“ und vielen Bürgern und Organisationen, die sich für den Klimaschutz engagieren, ausgeübt wurde. Und dies beinahe weltumspannend.
Denn nicht nur Deutschland wagt auf einmal Schritte, die lange kaum möglich erschienen. US-Präsident Joe Biden sucht gerade den Weg zurück in die Zukunft, indem er die von Donald Trump gekündigten Klima-Verträge wieder aus der Schublade holt. „Die Zeichen sind unübersehbar. Die Wissenschaft ist nicht zu leugnen. Die Kosten des Nichtstuns werden immer höher“, sagt Biden. Sein Ziel: Die USA sollen bis 2035 Strom ohne CO2-Emissionen erzeugen und spätestens 2050 ihre CO2-Emissionen auf netto null drücken. Vor der dänischen Küste entsteht aktuell eine Energieinsel zur Speicherung von Offshore-Windenergie – es handelt sich um das größte Bauprojekt der dänischen Geschichte. Die Vereinigten Arabischen Emirate gehören zwar zu den größten Öl-Exporteuren der Welt. Sie betreiben inzwischen aber auch zwei der größten Solaranlagen der Welt. Eine dritte solle folgen. „Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir den Klimaschutz zurückstellen und der Klimaschutz ein weiteres Opfer der Pandemie sein wird“, sagt Großbritanniens Premier Boris Johnson. Es sind Argumente gegen die immer wieder vorgetragene Kritik, Deutschland könne nicht alleine das Klima retten.
Immer mehr Menschen bemühen sich, nachhaltig zu leben
„Wir können tatsächlich davon sprechen, dass in den letzten sechs Monaten zahlreiche neue Mosaiksteine hinzugekommen sind und sich zu einem jetzt klar erkennbaren Bild zusammensetzen“, sagt Manfred Fischedick vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie. Das sei nicht nur auf staatlicher Ebene zu beobachten. Aufgrund technologischer Entwicklungen und sinkender Kosten im Bereich erneuerbarer Energien hätten Unternehmen – und zwar weltweit –, ihre Investitionspläne für klimaverträgliche Produktion aufgestellt und drängen darauf, diese mithilfe der richtigen politischen Rahmenbedingungen auch umsetzen zu können. „Schließlich hilft auch die Corona-Krise, besser zu verstehen, wie wichtig Krisenabwehr ist und wie notwendig präventives Handeln ist, solange die Chance noch dazu besteht“, sagt Fischedick.
Eine Erkenntnis, die über die Politik hinausreicht und tief im Bewusstsein vieler Bürger verankert ist. „Die Anzahl der Menschen, die sich bemühen, nachhaltig zu leben, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen – gerade im Ernährungsbereich, aber auch im Bereich der Mobilität“, sagt der Wuppertaler Klima-Experte. Ein Beispiel: Knapp 15 Milliarden Euro haben die Deutschen im Corona-Jahr 2020 für Bio-Lebensmittel und -Getränke ausgegeben, wie der deutsche Bio-Spitzenverband Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) in seinem Branchenreport mitteilt. Der Umsatz mit Biolebensmitteln stieg damit um 22,3 Prozent.
Besonderen Nachdruck erlebt die Klimafrage also vor allem auch dadurch, dass sie nicht von oben, von den Regierungen, aufgezwungen wird – sondern umgekehrt, breite Bevölkerungsschichten die Politik in die Verantwortung nehmen.
Die Klimaschutzbewegung hat mehr bewegt als die Wissenschaft
„Die Klimaschutzbewegung hat in den letzten Jahren das geschafft, was die Wissenschaft in den 40 Jahren seit dem Club of Rome leider nicht geschafft hat: Die Dringlichkeit und den Nachdruck in die Debatte und die Politik tragen“, sagt Gerhard Reese, Professor für Umweltpsychologie an der Universität Koblenz-Landau. Das könne damit zu tun haben, dass die Bewegungen es vor allem geschafft haben, junge Menschen zu mobilisieren. Psychologische Modelle würden das so erklären: Es brauche eine gewisse Form sozialer Identifikation mit einer Gruppe, einer Bewegung, einer Idee – „Das ist gelungen“, so Reese. „Diese Identifikation wurde gespeist von einem Ärger oder auch Wut über die sichtbare Ungerechtigkeit – ‚Unsere Zukunft wird geklaut‘ – und einem wachsenden Gefühl kollektiver Wirksamkeit: Die Bewegung hat gemerkt, dass sie gemeinsam etwas bewirken kann und das motiviert ungemein, am Ball zu bleiben.“ Auch er glaubt, dass dies mehr ist als ein Strohfeuer. „Vielleicht sehen wir hier nun wirklich einen sozialen Kipppunkt – man muss sich nur die letzten politischen Umfragen ansehen.“
Und doch wird es entscheidend darauf ankommen, ob aus dem Bekenntnis zum Umweltschutz auch eine echte Veränderung wächst. Schon in der Post-Corona-Phase wird es zunächst einmal Nachholeffekte geben – mehr Urlaubsreisen, mehr Konsum. Das müsse die Politik dann entsprechend flankieren. „Die Konsumenten müssen nicht nur motiviert werden, sich nachhaltig zu verhalten“, sagt Fischedick. „Ihnen muss auch die Möglichkeit gegeben werden, dies durch entsprechende Angebote wie zum Beispiel attraktive Radverkehrsverbindungen oder die Aufrechterhaltung von Homeoffice-Lösungen zu tun, aber auch durch eine Preisgestaltung, die Nachhaltigkeit nicht für bestimmte Bevölkerungsgruppen exklusiv macht.“
Besonders wirkungsvoll ist Wandel nämlich meist erst dann, wenn er in Gesetze gegossen oder in Programme verankert wird. Wenn etwa Bauvorschriften erlassen wurden, die klimapolitischen Grundsätzen folgen. Wenn Mobilität gefördert wird, die eine Alternative zum Auto bietet. Wenn ökologischer Landbau gestärkt wird. Die Rahmenbedingungen sind es, die aus der Verhaltensänderung Einzelner eine Verhaltensänderung der Gesellschaft machen. „Grundsätzliche Verhaltensänderungen sind nicht einfach in einem Wirtschaftssystem, welches eben diese klimaschädlichen Verhaltensweisen motiviert“, betont Umweltpsychologe Reese.
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