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EU-Kommission: Jean Claude Juncker: Der Abschied bringt mich nicht um

EU-Kommission

Jean Claude Juncker: Der Abschied bringt mich nicht um

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    Auf Jean-Claude Juncker warten bestimmt neue Aufgaben. Der Europäer aus Überzeugung hat schon angekündigt, sich auch nach seinem Abgang als Kommissionspräsident zu Wort zu melden.
    Auf Jean-Claude Juncker warten bestimmt neue Aufgaben. Der Europäer aus Überzeugung hat schon angekündigt, sich auch nach seinem Abgang als Kommissionspräsident zu Wort zu melden. Foto: Uwe Zucchi, dpa

    Es gibt Sätze, die begleiten einen Politiker sein ganzes Leben lang. Jean-Claude Juncker war noch ein junger Mann, als er einen der ersten deutschen Soldatenfriedhöfe in seiner luxemburgischen Heimat besuchte. Im Anblick der schier endlosen weißen Kreuze formulierte er seine Botschaft, die auch ein Teil seines Erbes ist: "Wer an Europa zweifelt, sollte öfter Soldatenfriedhöfe besuchen."

    Welches Potenzial in diesen Worten steckt, erlebte Juncker Jahrzehnte später. 2018 saß er im Oval Office neben dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Ihm erzählte er, dass es in Luxemburg ein Gräberfeld mit über 5000 weißen Kreuzen für im Zweiten Weltkrieg gefallene US-Soldaten gibt – und dieses Areal gehöre nicht zu

    Jean-Claude Juncker wird in den ersten Dezember-Tagen 65 Jahre alt. Am 1. Dezember verlässt der luxemburgische Christdemokrat die europäische Bühne. 20 Jahre lang war er Finanzminister des Großherzogtums, 18 Jahre zugleich Premierminister, acht Jahre stand er der Euro-Gruppe vor, fünf Jahre war er Präsident der Europäischen Kommission, der erste auf diesem Stuhl, den die EU-Bürger 2014 direkt wählen konnten.

    "Abschied tut immer ein bisschen weh, aber der Abschied bringt mich nicht um", sagte er im Oktober, als er sich mit einer Rede vom EU-Parlament verabschiedete. Im 13. Stock des Berlaymont, wo die Kommission in Brüssel sitzt, stehen Umzugskartons. Juncker kam an diesem Montag nach einer schweren Operation erstmals wieder ins Büro, das er nun für Ursula von der Leyen räumen wird.

    Juncker wollte das Ende der Sommerzeit, ist aber nicht fertig geworden

    Fragt man ihn nach seiner Bilanz, hagelt es Zahlen. Die Beschäftigungsquote in Europa liege bei 73,8 Prozent, sagt er. 75 Prozent hatte er selbst für 2020 als Ziel ausgegeben. Der nach ihm benannte "Juncker-Fonds", der eigentlich "Europäischer Fonds für strategische Investitionen" (EFSI) heißt, hat 450,6 Milliarden Euro für grenzüberschreitende Projekte gebracht und eine gute Million neuer Jobs geschaffen. Die Griechenland-Krise ist überstanden, die jüngsten Zahlen sprechen von einem Erfolg.

    Gut, die Umstellung der Uhren hat Juncker nicht mehr fertiggestellt. "Ich komme aus dem Staunen nicht heraus", sagte er jüngst. Er habe mit seinem Vorschlag doch nur umsetzen wollen, was viele Bürger wünschten. Nun liegt die Initiative auf Eis, weil sich die Mitgliedstaaten nicht auf gemeinsame Zeitzonen einigen können. Juncker schüttelt verständnislos den Kopf.

    Dabei misslang der Auftakt zu seiner Amtszeit gründlich. Kaum hatte Juncker die Kommission ganz nach Art einer Regierungsbehörde umgebaut und wollte in die Arbeit einsteigen, fiel ihm die LuxLeaks-Affäre auf die Füße. Investigative Journalisten enthüllten, dass die luxemburgischen Finanzbehörden jahrelang Steuersparmodelle mit Großkonzernen vereinbart hatten. Es schien undenkbar, dass der Premier- und Finanzminister davon nichts gewusst haben sollte. Juncker stellte sich an die Spitze der Bewegung, forderte seine neue Wettbewerbshüterin zur Aufklärung auf. Heraus kamen Vorgänge, die nicht illegal, aber doch anrüchig waren – in insgesamt 24 Mitgliedstaaten.

    Ein gutes halbes Jahr später drohte die Griechenland-Krise zu eskalieren – es kam zum Showdown, weil der linke Athener Regierungschef Alexis Tsipras ein drittes Hilfspaket zwar brauchte, aber nicht wollte. Juncker griff – an der Euro-Gruppe vorbei – ein und bahnte einen Kompromiss an. Der Euro war gerettet.

    Diese Wette wollte Juncker nicht gewinnen 

    Wieder ein Jahr später gewann er eine Wette, die er lieber verloren hätte. "Als der damalige Premierminister David Cameron mir sagte, er wolle ein Brexit-Referendum abhalten, habe ich ihm gesagt: ‚Das wirst du verlieren’. Mit dem damaligen britischen Kommissar Jonathan Hill habe ich gewettet: Ich kriege ein Pfund von dir, wenn die Remainer verlieren, du kriegst einen Euro, wenn sie gewinnen. Heute habe ich das Pfund." Juncker übergab die Brexit-Gespräche seinem französischen Freund Michel Barnier und kündigte an: "Ich werde mich pro Woche nur eine halbe Stunde mit dem Brexit beschäftigen." Es kam anders.

    Und dann gab es da noch die Bilder, die viele mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis registrierten: Juncker, der selbst bei offiziellen Anlässen gestützt werden musste, einmal sogar im Rollstuhl geschoben wurde. Der Kommissionspräsident, der auch mal torkelte, anderen Staats- und Regierungschefs scheinbar taktlos um den Hals fiel, sie küsste, ihnen durch die wohlgeformte Frisur wuschelte. Dass dies in jedem Fall Spätfolgen eines schweren Autounfalls sein sollten, bei dem Juncker vor 30 Jahren eine schwere Rückenverletzung davon trug und mehrere Wochen im Koma lag, wollten viele nicht gelten lassen. Spekulationen über einen zu hohen Alkoholkonsum, teilweise sogar von politischen Gegnern geschürt, machten die Runde. Inzwischen reagiert er auf entsprechende Fragen nur noch mit dem Hinweis: "Ich sage dazu nichts mehr. Solche falschen Behauptungen tun meiner Familie mehr weh als mir."

    Diese Momente mögen zu einer Bilanz gehören, sie dürfen aber nicht den Blick auf das Besondere seiner "Regentschaft" verstellen. Und das lässt sich auch nicht in Zahlen ausdrücken. Der Mann, den alle jahrelang "Mister Euro" nannten, der mit Preisen überschüttet wurde, hat die EU mit etwas Besonderem geprägt: seiner persönlichen Autorität. Dies dokumentiert ein Ereignis von Mitte 2018 deutlich. Der Kommissionspräsident war nach Washington gereist, weil US-Präsident Trump mit höheren Zöllen auf europäische Autos drohte. In den Kommentarspalten gab es Hohn und Spott für einen aussichtslosen Versuch: Wieso sollte ausgerechnet der Luxemburger den mächtigsten Mann der Welt stoppen können?

    Wer sich mit ihm einigte, der einigte sich mit der EU

    Dem Spiegel erzählte Juncker vor kurzem, wie es wirklich war: "Trump hat mir gesagt, wer schon alles vor mir im Oval Office war – die Bundeskanzlerin, Präsidenten, Premierminister –, und ich habe ihm gesagt: Die sind alle wichtig, aber du hast mit den Falschen geredet. Die Kommission ist zuständig für die Handelspolitik, nicht die Mitgliedstaaten. Trump sagte daraufhin: Ich möchte überhaupt keine Einigung mit der Europäischen Union, ich möchte eine Einigung mit dir. Ich erwiderte: In Handelsfragen ist die Europäische Kommission allein zuständig. Eine Einigung mit mir ist eine Einigung mit der EU." Juncker kam zurück, die Autozölle waren ausgesetzt worden. Es ist die Macht des Überzeugten, nicht des Vertreters eines großen Mitgliedstaates, mit der Juncker wirkte – und Politik machte. Dazu musste er immer wieder auch mal Gremien übergehen. Aber wer wollte ihm schon böse sein, wenn er erfolgreich blieb?

    Juncker wird am 1. Dezember Brüssel verlassen. Er habe 40.000 Bücher zu Hause und in seinen Büros stehen weitere 19.000, sagte der scheidende Präsident. Lesen wolle er und sich weiter zu Wort melden, kündigte Juncker gegenüber unserer Redaktion an. Er wird zurückgehen nach Luxemburg, sich weiter von seiner Operation erholen und ohne Zweifel einer der gefragtesten Gesprächspartner der Europäischen Union bleiben. Er habe sich "bemüht", sagte Juncker selbst in einer seiner zahlreichen Abschiedsreden. Das ist, bei allen Problemen, Rückschlägen und Zweifeln seiner politischen Gegner untertrieben. Jean-Claude Juncker hat Europa mitgebaut.

    Lesen Sie dazu auch: Katarina Barley kritisiert: "EU kommt in wichtigen Fragen nicht weiter"

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