Für Stefan Genth ist die Sache klar. Was die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten da machen, ist für den Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes nichts anderes als Wortbruch. Lockdown bis zum 7. März, die Geschäfte bleiben sogar noch länger dicht. „Viele Händler wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll. Die Situation ist oft aussichtslos: Keinerlei Planungssicherheit, kein Licht am Ende des Tunnels und nach wie vor unzureichende staatliche Unterstützung“, klagt Genth. Seine Kollegen in Bayern kündigen gar eine Klage an. Was sie besonders ärgert: dass die Politik die Ziellinie bei ihrem Corona-Gipfel in dieser Woche nach hinten verschoben hat. 35 ist die neue 50: Erst, wenn der Inzidenzwert stabil unter 35 liegt, soll auch der Einzelhandel wieder öffnen können. Willkürlich erscheint nicht nur vielen Händlern dieser Schritt. Aber ist er das auch?
Was zum Inzidenzwert im Infektionsschutzgesetz steht
Der Inzidenzwert gibt an, wie viele Menschen sich in den vergangenen sieben Tagen pro 100.000 Einwohner mit dem Coronavirus infiziert haben. Er ist eine der wichtigsten Richtgrößen für die politische Entscheidungsfindung. Schon im vergangenen Jahr wurde eine Inzidenz von 50 als Schwelle dafür definiert, bis zu der die knapp 400 deutschen Gesundheitsämter die Lage unter Kontrolle halten können: also alle Kontaktpersonen von Infizierten ausfindig machen und in Quarantäne schicken. Der Wert ist auch ausdrücklich im Infektionsschutzgesetz festgehalten. „Bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“, steht in dem erst im vergangenen Jahr überarbeiteten Gesetz.
Doch auch der Schwellenwert 35 ist erwähnt: Schon wenn der überschritten wird, muss die Regierung „breit angelegte Schutzmaßnahmen“ ergreifen. Unter anderem sind die bayerischen Gesundheitsämter dann verpflichtet, das Gesundheitsministerium über die Ursache der steigenden Fallzahlen und über lokale Gegenmaßnahmen zu informieren. Aus der Luft gegriffen ist die Zahl also keineswegs.
Corona-Mutanten sind deutlich ansteckender und tödlicher
Vor allem die Corona-Mutanten sind es, die die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten dazu gebracht haben, diese niedrigere Zielmarke nun zur entscheidenden zu machen. Man habe diese Entwicklung im vergangenen Jahr nicht vorhersehen können, betont Angela Merkel. Vor allem die britische Virus-Variante gilt als deutlich ansteckender, bei einem Inzidenzwert von 50 könnten die Zahlen sehr viel schneller nach oben gehen als bei einem Inzidenzwert von 35.
Die Rechnung ist einfach: Je mehr Menschen infiziert sind, umso mehr andere können sie auch anstecken. Experten gehen davon aus, dass der R-Wert bei den Mutanten um 0,3 Prozent aufgestockt werden muss. Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Liegt er bei 1, steckt ein Kranker einen weiteren an. Momentan liegt der R-Wert über 0,8 – sobald er die 1 übersteigt, gilt das Wachstum als exponentiell und schwer kontrollierbar. „Wir können eine dritte Welle nur bekämpfen, wenn wir bei den Inzidenzzahlen wirklich runterkommen“, sagt Merkel.
Für den Münchner Infektiologen Clemens Wendtner ist dies ein wichtiger Schritt – und doch würde er sogar noch weiter gehen. Er spricht sich als Voraussetzung für weitere Öffnungen für eine Sieben-Tages-Inzidenz von 25 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner aus. Man brauche gerade in der jetzigen Situation dringend einen Puffer. „Die 50 reichen nicht“, sagt er – und mahnt zugleich, auch andere wichtige Parameter nicht außer Acht zu lasen. „Die Inzidenz alleine ist es nicht.“ Wendtners Rat: Den Inzidenzwert kombinieren mit einem Reproduktions-Wert (R-Wert) von höchstens 0,7 – besser wäre kleiner. „Das ist aus meiner Sicht die Zauberformel“, sagt der Mediziner. Und könne reichen, um uns vor einer großen dritten Welle zu schützen. „Wir sind gut, aber wir dürfen das Erreichte nicht verspielen“, sagt er.
Wendtners Warnung hat einen Grund: Während sich die Zahl der nachgewiesenen Corona-Mutanten bundesweit noch auf niedrigem Niveau bewegt, sind in Bayern bereits mehr als 20 Prozent aller Covid-Fälle auf das mutierte Virus zurückzuführen. Durch gezielte Tests weiß man inzwischen, dass die Coronavirus-Variante aus Großbritannien etwa in einigen ostbayerischen Regionen bereits die Oberhand gewonnen hat. In den Regionen Hof, Wunsiedel und Tirschenreuth an der Grenze zu Tschechien beträgt der Anteil der Mutation an den positiven Fällen bereits 40 bis 70 Prozent – das macht sich an der Zahl der Neuinfektionen massiv bemerkbar: Im Kreis Tirschenreuth liegt der Inzidenzwert bei 348,4 – der deutsche Spitzenplatz.
Clemens Wendtner warnt deshalb eindringlich davor, sich von der allgemeinen Entwicklung der Corona-Zahlen täuschen zu lassen. Vor allem die südafrikanische Variante gilt nicht nur als ansteckender, sondern auch als tödlicher. Zudem wirken manche Impfstoffe weniger gut dagegen. Auch wer schon Corona hatte, kann sich wahrscheinlich erneut anstecken. Die Rate der Zweitinfektionen werde daher wahrscheinlich steigen, prognostiziert Wendtner.
Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach plädiert seit einiger Zeit dafür, die Richtgrößen an die neue Situation anzupassen. „Ein Inzidenzwert von 50 reicht nicht aus“, sagt er. „Um das Gleiche zu erreichen wie vorher, müssen wir ihn absenken.“ Man könne sich wissenschaftlich ausrechnen, dass erst ab einem Inzidenzwert von 35 das gleiche Ergebnis erzielt werden kann wie vorher mit der Inzidenz von 50, wenn die Gesundheitsämter nicht schneller Kontakte erfassen können. „Wir müssen sehr schnell reagieren“, sagt Lauterbach. „Die Übernahme der Mutation ist nicht mehr zu stoppen, den kritischen Wert haben wir schon überschritten. Wir werden es nicht verhindern können, dass schon in wenigen Wochen, die allermeisten Neuinfektionen von Mutationen ausgelöst werden.“ Deshalb reiche es auch nicht aus, nur den Inzidenzwert abzusenken.
Lauterbach: Corona-Schnelltests müssen rasch zugelassen werden
So schnell wie möglich müssten nun Schnelltests für Laien auch für Deutschland zugelassen werden. „Schnelltests in den Schulen und Betrieben sind von allergrößter Bedeutung.“ Doch die Prüfung beim zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) gehe nur sehr langsam voran. „Das Bfarm braucht sehr lange, das muss dringend beschleunigt werden“, sagt Lauterbach. „Die Produktion wird sonst ins Ausland verkauft, wo diese Tests schon zugelassen sind.“ In Österreich etwa müssen Kinder und Jugendliche, die wieder die Schule besuchen, den Schnelltest durchführen – umgangssprachlich wird er Nasenbohrer-Test genannt, weil das Stäbchen in die Nase gesteckt werden muss.
In der Praxis macht der Kursschwenk der Politik tatsächlich einen großen Unterschied: Auf eine Inzidenz von höchstens 50 kommen derzeit 153 Landkreise, auf eine Inzidenz von höchstens 35 nur 65 Kreise (Stand Freitag, 16 Uhr). Unter 10 liegt bislang kein einziger Landkreis. Wie lange es dauert, ehe der deutschlandweite Schnitt auf eine Inzidenz von 35 kommt, lässt sich aus Berechnungen zumindest vermuten. Bislang dauerte es rund vier Wochen, ehe der Inzidenzwert halbiert wurde. Aktuell liegt der Wert bei 65 – in drei bis vier Wochen könnte der nächste Lockerungsschritt also realistisch erreicht werden. Und doch gibt es in dieser Rechnung eben viele Unbekannte. Und das sind nicht nur die Mutationen. Wenn am 22. Februar die Kinder zurück in Schulen und Kitas dürfen, werden sich Klassenzimmer und öffentliche Verkehrsmittel füllen – und damit für mehr Ansteckungspotenzial sorgen.
Österreich öffnet trotz hoher Inzidenzwerte
Trotz aller wissenschaftlichen Appelle – die Zahl ist kein Automatismus, sondern politische Verhandlungsmasse. Das zeigt ein Blick in andere Länder. Österreich etwa hat schon zum 8. Februar den Lockdown deutlich gelockert, der Einzelhandel hat genauso geöffnet wie Friseure – und das, obwohl der Inzidenzwert bei unseren Nachbarn noch deutlich über der 100er Grenze liegt. Bedenken, dass die eigene Bevölkerung deshalb die Motivation verliert, hat Gesundheitsexperte Lauterbach dennoch nicht. „Wir müssen die Dinge so gut und transparent, wie wir können, erklären“, sagt er. „Man kann nichts anders machen, als offen und ehrlich zu sein – das wird am Ende auch den vernünftigen Teil der Bevölkerung erreichen.“
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