In Deutschland ist die Verschwörungsideologie QAnon zum ersten Mal so richtig sichtbar geworden, als die Corona-Demos größer wurden. Frau Rafael, gab es denn schon zuvor Anhänger dieser Ideologie in Deutschland oder kam das erst durch die Corona-Pandemie?
Simone Rafael: Die QAnon-Bewegung gibt es seit 2017 in den USA und wie bei vielen Phänomenen im verschwörungspsychologischen oder rechtsextremen Bereich in den USA interessiert das auch Menschen mit einer entsprechenden Einstellung in Deutschland. Aber das war damals sehr vereinzelt. Es gab zwar schon verschwörungsideologische Autoren oder Youtuber in Deutschland. Aber das hatte keine sehr große Breitenwirkung. Und das blieb so bis zum März 2020. Mit der Corona-Pandemie bekamen Verschwörungsideologien insgesamt einen großen Zustrom. Dabei stellte sich heraus, dass QAnon eine Art Superverschwörung ist.
Was heißt das genau?
Rafael: Bei QAnon gibt es ein nicht nur ein klar definiertes Freund- und Feindbild, das bieten grundsätzlich alle Verschwörungserzählungen an. QAnon funktioniert auch als Verschwörungsideologie zum Selbermachen. Es wird gesagt: Recherchiere selbst, denk selbst. Dadurch geraten die Menschen immer tiefer in den Sog der Ideologie. Und in die QAnon-Ideologie lassen sich beliebte, lokal Verschwörungserzählungen gut einbetten – dadurch hat sie weltweit viele Anhänger gefunden. In Deutschland war das etwa die Reichsbürger-Verschwörung.
Worum geht es in der Verschwörungsideologie von QAnon? Woran glauben die Anhänger dieser Ideologie?
Rafael: Im Kern geht es bei QAnon darum, dass ein Endkampf angestrebt wird zwischen Gut und Böse. Auf der guten Seite wurde Donald Trump als der Heilsbringer schlechthin gesehen. Er sollte allem ein Ende setzen, was rechtspopulistische, rechtsextreme Leute hassen – also alle Formen von Moderne, von Gleichwertigkeit. Das sollte er tun, indem er gegen den so genannten „Deep State“ kämpft. Der „Tiefe Staat“, das sind die Bösen. Die Strippenzieher, eine geheime globale Elite, von der QAnon-Anhänger glauben, dass sie in Wirklichkeit Politik machen. Das alles sind Chiffren für Jüdinnen und Juden – die Verschwörungsideologie ist also sehr antisemitisch. Das mischt sich mit lokalen Komponenten – in Deutschland eben mit der Verschwörungsideologie der Reichsbürger. Die glauben, dass die Bundesrepublik Deutschland keine legitime Staatsform ist, sondern, dass es noch das Deutsche Reich geben müsste, weil Deutschland mit den Alliierten nie einen Friedensvertrag geschlossen hat. Da kommt wieder Donald Trump ins Spiel, der Deutschland diesen Friedensvertrag und damit seine Souveränität geben sollte. Das ist natürlich alles Unfug. Aber in der Weltsicht der QAnon-Anhänger macht es Sinn.
Donald Trump ist seit dieser Woche weg – oder zumindest nicht mehr im Amt. Was bedeutet das denn für die Anhänger von QAnon? Er hat ihre Erwartungen als Heilsbringer ja offensichtlich nicht erfüllt.
Rafael: Es wird sehr interessant zu beobachten, was passiert. Noch haben wir nur eine Momentaufnahme. Und bisher zeigt sich: Sowohl in den USA als auch in Deutschland ist die QAnon-Szene gespalten. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die total desillusioniert sind. Sie sagen: „Okay, der Sturm, an den wir geglaubt haben, den Trump auslösen sollten, ist nicht gekommen. Vielleicht müssen wir jetzt durchatmen und versuchen, wieder in ein normales Leben zurück zu kehren.“ Das lässt sich auch bei sogenannten Influencern in der Szene beobachten. Es gibt einen, der nach der Amtseinführung von Biden geschrieben haben: „Ich weiß auch nicht mehr, was ich jetzt machen soll. Ich bin jetzt erst mal aus dem Internet raus.“
Und welche Reaktion zeigt die andere Seite?
Rafael: Die andere Seite versucht verzweifelt, die Verschwörungserzählung weiterzuentwickeln. Die Leute sagen zum Beispiel: „Das ist alles Teil des Plans. Joe Biden darf ein paar Tage Präsident sein, dann wird Trump wieder übernehmen.“ Es gibt aber auch Erzählungen, die sagen: „Biden ist Präsident von Washington D.C., aber den Rest von Amerika hat Donald Trump abgeriegelt und alle anderen Amerikaner gehören zu der Republik, die er in ein paar Tagen ausrufen wird.“ Es wird versucht, die Verschwörungserzählung aufrecht zu erhalten. Das ist nicht überraschend. Langjährige Forschung dazu hat gezeigt, dass Menschen, die schon viel Energie in eine Ideologie investiert haben, die sich vielleicht mit ihren Familien oder Arbeitgebern überworfen haben, auf alle Fälle versuchen, die Illusion aufrechtzuerhalten. Selbst wenn es sich offensichtlich um eine Illusion handelt. Was positiv zu bewerten ist, ist, dass bisher keine Gewalt entstanden ist. Das war ja eine Befürchtung, dass die Menschen gewalttätig werden, wenn sie merken, dass der Plan, dem sie vertrauen, nicht kommt. Das ist bisher ausgeblieben. Aber man kann zum Beispiel in deutschen Q-Gruppen mit etwa 60.000 Mitgliedern beobachten, dass dort versucht wird, Menschen zu mobilisieren. Dort heißt es dann: „Wir sind 60.000 Leute, wenn wir zusammen eine Aktion starten, können wir Einfluss nehmen.“ Dieses Einflussnehmen kann zwar alles Mögliche heißen, aber in diesen Sphären kann es bis zur Gewalt reichen.
Wie viel Gewalt- oder Gefährdungspotenzial steckt denn in den QAnon-Anhängern?
Rafael: Die Situation in den USA und in Deutschland ist nicht ganz vergleichbar. In den USA gelten zum Beispiel andere Waffengesetze als hier. Dort sind auch viele militante Gruppen unter den Anhängern. Also Menschen, die bewaffnet sind und wissen, wie man mit einer Waffe umgeht. Das hat der 6. Januar – der Tag des Sturms auf das Kapitol in Washington D.C. – deutlich gezeigt. In Deutschland existiert eine starke Verknüpfung in die Reichsbürgerszene, die wiederum eine starke Verbindung in die Szene der rechtsextremen Prepper hat. Also diejenigen Rechtsextremen, die sich auf einen Tag X vorbereiten. Wobei Tag X auch als Tag der Machtübernahme oder Ähnliches zu verstehen ist. Das sind die Gruppen, die sich nicht nur einen Bunker bauen und Lebensmittel aufbewahren. Die horten auch Waffen, weil sie denken, dass sie die für den Tag X brauchen. Und zuletzt wurden solche Gruppen auch in Bundeswehr- und Polizeikreisen entdeckt. Von dort wurden auch Waffen beiseitegeschafft und gehortet. Das heißt: Das Gefährdungspotenzial ist auf alle Fälle da. Auch in Deutschland.
Vergangenes Jahr hat die Amadeu-Antonio-Stiftung einen Bericht über die QAnon-Bewegung in Deutschland veröffentlicht. Darin stufen Sie QAnon als eine der gefährlichsten Bewegungen, die es zurzeit gibt, ein. Haben die Sicherheitsbehörden das Ihrer Einschätzung nach auf dem Schirm?
Rafael: Ich kann es nur hoffen. Es liegen alle Karten klar auf dem Tisch. Leute reden in offenen Online-Gruppen darüber, welche gewalttätige Fantasien sie haben oder fangen an, Pläne zu schmieden. Zu erkennen, dass dort ein Gewaltpotenzial vorhanden ist, ist nicht schwer. Andererseits haben wir den 6. Januar in den USA gesehen, an dem es einem Mob von Menschen möglich war, problemlos in das Kapitol zu laufen - weil eben nicht viel Sicherheitspersonal da war. Ich hoffe sehr, dass deutsche Behörden das besser auf dem Schirm haben. Vor allem, weil im Frühling vermutlich die Demonstrationen wieder losgehen und dieses Jahr auch die Bundestagswahl stattfindet.
In dem Bericht der Amadeu-Antonio-Stiftung steht auch, dass sich die Verschwörungserzählung rund um QAnon nach dem englischsprachigen Raum sehr schnell in Deutschland verbreitet hat und, dass sie hierzulande mit die meisten Anhänger hat. Wie kommt das denn, dass die Deutschen so anfällig sind, für solche Verschwörungserzählungen?
Rafael: Die Frage können wir noch nicht ganz beantworten. Aber die Einstellungsforschung spricht seit vielen Jahren davon, dass in Deutschland rund 25 Prozent der Menschen für rechtspopulistische, verschwörungsideologische Inhalte ansprechbar sind. Durch die Demonstrationen, die es während der Pandemie gab, ist die Gruppe sichtbar geworden. Aber die Szene gab es schon davor – sicher ist die Zahl der Anhängerinnen und Anhänger während der Pandemie aber gewachsen. Das so etwas passieren kann, ist nicht völlig neu. Bei Pegida haben wir etwas Ähnliches beobachtet. Die Bewegung hat die Aufnahme von Geflüchteten zum Anlass genommen, um gegen die Regierungspolitik zu wettern und Rassismus zu verbreiten. Und da gab es ein ähnliches Protestpotenzial wie jetzt während der Corona-Pandemie.
Sie sagten, ein Teil der Bewegung ist jetzt auch desillusioniert, glaubt vielleicht nicht mehr ganz so fest an die Verschwörungserzählung, weil Trump eben doch gegangen ist. Wenn man Angehörige oder Freunde hat, die in diese Blase gerutscht sind, ist dann jetzt ein guter Zeitpunkt, wieder Kontakt mit ihnen aufzunehmen und versuchen, ihnen zu helfen?
Rafael: Jetzt ist quasi der perfekte Zeitpunkt dafür. Jetzt kann man mit offenen Armen auf die Menschen zugehen und sagen: Ich bin für dich da, wenn du feststellst, dass du reden oder dich abwenden möchtest. Was man aber verstehen muss, ist, dass die Rückkehr in die Realität nicht sehr leicht ist. Die Leute bewegen sich ja in einer wahnhaften Welt.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass QAnon-Anhänger dafür empfänglich sind?
Rafael: Je enger der Kontakt zu einem Menschen ist, desto großer ist die Chance, dass es gelingt. Aber dabei ist noch etwas wichtig: Mit Fakten erreicht man diese Menschen nicht. Sie haben sich aktiv entschieden, sich in eine andere Welt zu begeben. Und alle Fakten werden in dieses Weltbild eingepasst. Wenn man das Gespräch sucht, sollte man eher fragen: „Warum ist das wichtig für dich, warum verfolgst du diese Theorie?“ Was ist das Bedürfnis, das dahintersteht? Dann hat man die Chance, das Bedürfnis, anders aufzufangen.
Wenn irgendwann die Zahl der Neuinfizierten, der Menschen auf den Intensivstationen und der Toten sinkt, und vielleicht auch durch die Impfung wieder ein normaler Alltag möglich ist, was passiert dann mit den Anhängern der Verschwörungsideologien?
Rafael: Das ist die große Frage. Innerhalb dieser Verschwörungsszene sind viele rechtsextreme Akteure unterwegs, die versuchen, alles zu tun, um die Menschen zu halten. Sie sind ja schon gegen parlamentarische Demokratie, gegen Wissenschaft, gegen Presse und die rechtsextremen Akteure wollen sie weiterhin in ihrem Sinne manipulieren. Das ist eine große Gefahr. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir uns als demokratische Gesellschaft überlegen, wie wir Angebote machen können, um die Leute zurückzuholen. Beratungsangebote für Aussteiger oder für Familienmitglieder und Angehörige. Man muss sich das ein bisschen so vorstellen wie bei einer Sekte. Der Ausstieg ist ein langwieriger Prozess. Die Menschen wachen nicht eines Tages auf und sagen: „Mist, da habe ich aber an völlig verkehrte Dinge geglaubt.“ Aber das Gute ist, dass gerade in diese Richtung viel entsteht.
Zur Person: Simone Rafael hat bei der Amadeu-Antonio-Stiftung das Projekt De:Hate ins Leben gerufen, das sich mit Hassrede in Sozialen Netzwerken befasst. In dem Projekt entstand vergangenes Jahr ein Report zu QAnon in Deutschland. Rafael befasst sich seit Jahren mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus.
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