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Interview: Verschwörungsmythen und Hass: Wie beeinflusst Social Media die Politik, Frau Brodnig?

Interview

Verschwörungsmythen und Hass: Wie beeinflusst Social Media die Politik, Frau Brodnig?

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    Wie kann man Verschwörungstheoretikern begegnen und effektiv widersprechen?
    Wie kann man Verschwörungstheoretikern begegnen und effektiv widersprechen? Foto: Christoph Schmidt, dpa (Symbolbild)

    Frau Brodnig, wir haben alle noch die Bilder vor Augen vom 6. Januar, als Trump-Anhänger in Washington D.C. das Kapitol stürmten. Facebook und Twitter sperrten im Anschluss Donald Trump. Hat Sie die Sperre überrascht?

    Ingrid Brodnig: Nein, denn es war die Eskalation, auf die Trumps Amtszeit hinausgelaufen ist - das unwürdige Ende einer unwürdigen Präsidentschaft. Es gab schon jahrelang Rufe, ihn von den Plattformen zu verbannen. Diese schreiten meist aber sehr spät ein. Nach der Wahl war klar, dass Trump bald keine Macht mehr haben wird. Überrascht hätte es mich, wenn Trump die Wahl gewonnen hätte und dann gesperrt worden wäre.

    Finden Sie den Schritt nachvollziehbar? Einige kritisierten die Maßnahme als zu starke Beschneidung der Meinungsfreiheit...

    Brodnig: Ich halte es für nachvollziehbar und angemessen. Trump hat wesentlich zur Agitation beigetragen, indem er Falschheiten verbreitete und seine Anhänger aufrief, sich zu versammeln. Twitter sperrte Trump verbunden mit dem Hinweis, dass weitere Gewaltanstiftung zu befürchten sei. Die Ereignisse in den USA zeigen jedoch das eigentliche Problem: Zwei, drei große Unternehmen entscheiden, wer ein Milliarden-Publikum ansprechen darf und wer nicht. Da brauchen wir in Zukunft unter Umständen rechtsstaatliche Instrumente, um solche Fälle zu entscheiden.

    Dem Sturm auf das Kapitol sind unzählige Lügen Trumps vorangegangen, die seine Anhänger glaubten. Ohnehin hat man das Gefühl, immer mehr Menschen informieren sich in sozialen Netzwerken über aktuelle Ereignisse - Beispiel Corona. Wie bewerten Sie diesen Trend?

    Brodnig: In den sozialen Medien rückt der Absender immer weiter in den Hintergrund. Viele, die Videos oder Posts sehen, kennen die Quelle gar nicht. Das ist vor allem für seriöse Medien ein Problem. Manche Nutzerinnen und Nutzer unterscheiden nicht, ob ein Video mit zehn Ausrufezeichen die Wahrheit verspricht oder das einer Wissenschaftsredaktion. Der Standardmodus im Netz ist nicht der Zweifel, sondern man saugt viele Behauptungen einfach mal auf.

    Haben Sie das Gefühl, die Menschen radikalisieren sich zunehmend in sozialen Netzwerken - wie etwa beim russischen Messengerdienst Telegram?

    Brodnig: Bei einigen: ja. Wenn jemand Facebook verlässt, weil dort zu streng hingesehen wird, um auf Telegram irgendwelche Verschwörungsgruppen zu abonnieren, dann ist das ein Warnsignal. Auf Telegram gibt es große solcher Gruppen, in denen fast alles geht. Dort werden auch medizinisch falsche und menschenfeindliche Inhalte geteilt. Es ist beunruhigend, was auf Telegram passiert. Dazu gibt es eine interessante Studie der Organisation Jugendschutz.net, die sich 200 rechtsextremistische Inhalte auf Telegram angesehen hat. Neun von zehn Inhalten hat Telegram trotz Meldung stehen lassen. Ein schlechter Schnitt. Generell beobachten wir einen Exodus in der Verschwörungs- und rechten Szene hin zu Telegram.

    Autorin und Journalistin Ingrid Brodnig beschäftigt sich intensiv mit Verschwörungsmythen.
    Autorin und Journalistin Ingrid Brodnig beschäftigt sich intensiv mit Verschwörungsmythen. Foto: Gianmaria Gava

    Was muss in den sozialen Netzwerken passieren, um diesen Trend zu stoppen?

    Brodnig: Die Plattformen haben eine Verantwortung - und sie sind bei Corona auch schon strenger geworden. Aber wenn falsche Sachen verbreitet werden, müssen die Plattformen schnell reagieren, nicht erst nach Tagen. Facebook arbeitet beispielsweise mit Faktencheckern von dpa oder Correctiv zusammen, das halte ich für sinnvoll.

    In Deutschland stehen im September Bundestagswahlen an. Welche Rolle spielen soziale Netzwerke Ihrer Meinung nach bei dieser Wahl?

    Brodnig: Mit sozialen Medien alleine gewinnt man in Deutschland keine Wahl - im internationalen Vergleich ist Deutschland nicht besonders Social-Media-affin. Für Parteien wie die AfD ist Facebook jedoch sehr wichtig. Über Emotionalität und über ihre Themensetzung wie Flüchtlingspolitik und Merkel-Bashing liefert die AfD regelmäßig Futter für Aufregung. Daher sind die sozialen Kanäle für die AfD zentral. Sie zeigt im Übrigen auch keinerlei Scheu, Corona-Skeptikern Futter zu geben.

    Glauben Sie, dass - ähnlich wie in den USA - auch hierzulande Politiker gesperrt werden könnten?

    Brodnig: Dass Facebook und Twitter in Deutschland namhafte Politikerinnen oder Politiker sperren, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Man sollte nicht so tun, als wäre der Fall Trump mit der langen Provokation und dem Nichtanerkennen der Wahlniederlage alltäglich. Um gesperrt zu werden, muss man sich schon einiges leisten. Was aber durchaus passieren kann, ist, dass einzelne AfD-Politikerinnen und -Politiker wieder provozieren, dass ihre Posts gelöscht werden. Denn für sie ist das eine Win-Win-Situation: Solche Posts erregen zunächst aufgeregten Zuspruch unter den Anhängern und großen Widerspruch bei denen, die gegen die AfD sind. Wird nun ein solcher Post gelöscht, schreien sie "Zensur" und erhalten die zweite Aufmerksamkeitswelle. Dieses Spiel spielt die AfD schon lange.

    Wie sind denn Plattformen wie Facebook in Deutschland organisiert? Bekommen die es überhaupt mit, wenn Politikerinnen oder Politiker hetzen?

    Brodnig: Facebook hat ein eigenes Team, das Beschwerden zu Posts von Politikerinnen und Politikern näher prüft. Generell sollten Politikerinnen und Politiker als solche im System eingestuft und damit genauer beobachtet werden.

    Chronologie der Corona-Pandemie in Deutschland

    Im Januar 2020 ist die erste Corona-Infektion in Deutschland bekannt geworden. Ein Rückblick:

    27. Januar: Erste bestätigte Infektion in Deutschland. Zwei Wochen später ist der Mann aus Bayern wieder gesund.

    25./26. Februar: Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen melden erste nachgewiesene Fälle. Weitere Bundesländer folgen, am 10. März hat Sachsen-Anhalt als letztes Land seinen ersten Fall.

    9. März: In NRW gibt es die ersten Todesfälle innerhalb Deutschlands. Die Zahl der Infektionen steigt bundesweit auf mehr als 1000.

    12./13. März: Immer mehr Theater und Konzerthäuser stellen den Spielbetrieb ein. Die Fußball-Bundesliga pausiert.

    16. März: An den Grenzen zu Frankreich, Österreich, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz gibt es Kontrollen und Einreiseverbote. In den meisten Bundesländern sind Schulen und Kitas geschlossen.

    17. März: Mehrere Konzerne kündigen an, ihre Fabriken vorübergehend zu schließen.

    22. März: Verbot von Ansammlungen von mehr als zwei Menschen. Ausgenommen sind Angehörige, die im eigenen Haushalt leben. Cafés, Kneipen, Restaurants, aber auch Friseure zum Beispiel schließen.

    15. April: Auf eine schrittweise Aufnahme des Schulbetriebs ab 4. Mai verständigen sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Länderchefs.

    20. April: Geschäfte unter 800 Quadratmetern Fläche dürfen wieder öffnen. Als erstes Bundesland führt Sachsen die Maskenpflicht für ÖPNV und Einzelhandel ein. Alle anderen ziehen nach.

    22. April: Für Firmen, Arbeitnehmer und Gastronomie werden milliardenschwere Hilfen beschlossen.

    6. Mai: Die Länder bekommen weitgehende Verantwortung für die Lockerung von Beschränkungen - etwa für Hotels, Gastronomie, Fahrschulen, Schwimmbäder und Fitnessstudios.

    16. Mai: Sachsen-Anhalt registriert als erstes Bundesland seit Ausbruch der Pandemie keine Neuinfektionen im Vergleich zum Vortag. Die Fußball-Bundesliga legt wieder los - ohne Fans in den Stadien.

    16. Juni: Im Kampf gegen das Virus geht eine staatliche Warn-App an den Start. Sie soll dabei helfen, Infektionen nachzuverfolgen. 

    29. August: Etwa 40.000 Menschen protestieren in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen. Demonstranten durchbrechen die Absperrung vor dem Reichstag und stürmen auf die Treppe.

    30. September: Angesichts wieder steigender Infektionszahlen fordert die Kanzlerin zum Durchhalten auf. "Wir riskieren gerade alles, was wir in den letzten Monaten erreicht haben", sagt Merkel im Bundestag.

    7./8. Oktober: Die Bundesländer beschließen ein Beherbergungsverbot für Urlauber aus inländischen Risikogebieten. 

    22. Oktober: Die Zahl der Neuinfektionen binnen eines Tages hat erstmals den Wert von 10.000 überschritten. Das Robert Koch-Institut (RKI) macht vor allem private Treffen dafür verantwortlich.

    2. November: Ein Teil-Lockdown mit Einschränkungen bei Kontakten und Freizeitaktivitäten soll die zweite Infektionswelle brechen.

    9. November: Als erste westliche Hersteller veröffentlichen Biontech und der US-Pharmakonzern Pfizer vielversprechende Ergebnisse einer für die Zulassung ihres Corona-Impfstoffs entscheidenden Studie.

    18. November: Unter dem Protest Tausender in Berlin machen Bundestag und Bundesrat den Weg für Änderungen im Infektionsschutzgesetz frei.

    25. November: Die Beschränkungen für persönliche Kontakte werden für weitere Wochen verschärft. Darauf verständigen sich Bund und Länder.

    27. November: Die Zahl der nachgewiesenen Infektionen in Deutschland hat nach RKI-Daten die Millionenmarke überschritten. 

    2. Dezember: Als erstes Land der Welt erteilt Großbritannien dem Impfstoff von Biontech und Pfizer eine Notfallzulassung und startet seine Impfkampagne wenige Tage später. 

    16. Dezember: Der seit November geltende Teil-Lockdown reicht nicht aus. Der Einzelhandel muss mit wenigen Ausnahmen schließen.

    18. Dezember: Die Zahl der binnen eines Tages gemeldeten Infektionen in Deutschland ist erstmals auf mehr als 30.000 gestiegen.

    21. Dezember: Zum Schutz vor einer infektiöseren Virus-Variante dürfen keine Passagierflugzeuge aus Großbritannien mehr in Deutschland landen. Der Corona-Impfstoff von Biontech erhält von Brüssel die bedingte Marktzulassung. Somit können die Impfungen in der EU beginnen. Am 6. Januar wird auch der von Moderna zugelassen.

    24. Dezember: Heiligabend im Zeichen der Pandemie. Familienfeiern sollen klein bleiben, Christmetten wenn überhaupt nur auf Abstand stattfinden. Zudem wird die in Großbritannien aufgetretene Variante des Coronavirus erstmals auch in Deutschland nachgewiesen.

    26. Dezember: Einen Tag vor dem offiziellen Impfstart werden in einem Seniorenzentrum in Sachsen-Anhalt eine 101 Jahre alte Frau und etwa 40 weitere Bewohner geimpft. 

    27. Dezember: In allen Bundesländern beginnen die Impfungen. Zuerst sollen Menschen über 80, Pflegeheimbewohner sowie Pflegekräfte und besonders gefährdetes Krankenhauspersonal immunisiert werden.

    1. Januar 2021: Deutschland kommt vergleichsweise ruhig ins neue Jahr. Der Verkauf von Silvesterfeuerwerk war verboten. 

    14. Januar: Das Statistische Bundesamt schätzt, dass die deutsche Wirtschaftsleistung 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 5,0 Prozent eingebrochen ist.

    15. Januar: Mehr als zwei Millionen Corona-Fälle sind hierzulande bekannt geworden, knapp 45.000 Menschen sind an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Sars-CoV-2-Infektion gestorben.

    19. Januar: Bund und Länder verlängern den Lockdown bis Mitte Februar. Zudem werden die besser schützenden FFP2-Masken oder OP-Masken in Bus und Bahn sowie beim Einkaufen obligatorisch.

    21. Januar: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben in Deutschland bereits ihre erste Corona-Impfung erhalten, etwa 77.000 auch schon die zweite. (dpa)

    Werden Lügen sowie die Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien in Zukunft die Hauptherausforderung für soziale Netzwerke?

    Brodnig: Auf lange Sicht wird es die Frage sein: Wer entscheidet, was auf den Plattformen stehen bleiben darf? Brauchen wir irgendwann Medienbehörden, die das entscheiden? Es ist eine beunruhigende Situation, dass Facebook und Twitter einen so relevanten Einfluss auf die öffentliche Rede haben.

    Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn über soziale Netzwerke Lügen verbreitet werden und man sich in seiner Filterblase nur noch mit Gleichgesinnten austauscht?

    Brodnig: Es gibt zwei Probleme: Wenn Falschmeldungen stark kursieren, bleibt immer etwas davon hängen. Das ist der sogenannte Wahrheitseffekt: Wenn man eine Behauptung öfter hört, dann hält man sie eher für wahr. In diesen Gruppen wiederholen sich natürlich solche Behauptungen öfter. Das zweite Problem: Wir sprechen bei Anhängern der Verschwörungstheorien zwar von einer Minderheit, aber von einer Radikalopposition. Sie stellen alles in Frage, die Wissenschaft, die Medien. Lassen Sie mich ein Beispiel aus Österreich nennen: Aus Umfragedaten der Universität Wien geht hervor, dass Menschen, die politisch nach rechts tendieren, empfänglicher für Verschwörungsmythen sind. Aber auch in allen anderen politischen Lagern wurde gemessen: Ein hohes Misstrauen in Politik und in Wissenschaft macht tendenziell anfälliger für Verschwörungsmythen. Wir beobachten derzeit in vielen Ländern, dass Rechtspopulisten versuchen, Corona für sich zu nutzen. Wie gesagt, wir sprechen von einer Minderheit, aber auch die ist eine potentielle Wählerschicht für die AfD.

    Täuscht der Eindruck, dass gerade bei Themen wie Verschwörungstheorien die Wut in den sozialen Netzen zunimmt?

    Brodnig: Wut im Netz verläuft wellenförmig. Es gibt immer Themen, die besonders schlimm sind. Schon in der Vergangenheit gab es Wellen der Wut wie bei der Flüchtlingsthematik. Corona ist noch umfassender, weil es uns alle direkt betrifft, weil viele Menschen Ängste verspüren, weil sie zu Hause sitzen und sich nicht abreagieren können. Die Corona-Krise ist eine gesellschaftliche Belastung, die wir bis zum Herbst sicher nicht überwunden haben werden - keine gute Voraussetzung für eine Bundestagswahl.

    Sie haben vor wenigen Tagen ein Buch veröffentlicht, in dem es darum geht, wie man im Privaten und im Netz solchen Verschwörungstheoretikern begegnen kann. Haben Sie Tipps für den Alltag?

    Brodnig: Wir haben beobachtet, dass es durchaus sinnvoll ist, im Netz Verschwörungsmythen zu widersprechen. Wenn zwei unterschiedliche Nutzerinnen oder Nutzer einer falschen Behauptung widersprechen, vielleicht sogar den passenden Faktencheck verlinken, dann kann das einen Einfluss auf die Mitlesenden haben. Wichtig hierbei ist: Es ist vor allem sinnvoll auf Seiten zu widersprechen, wo mehrere Meinungen vertreten sind und nicht unbedingt in reinen Verschwörungsgruppen. Gerade im privaten Umfeld ist es wichtig, diesen Menschen zwar in der Sache zu widersprechen, aber in einer Weise, die die Person nicht als Angriff wertet. Man sagt ja schnell "Covidiot" oder "nimm deinen Aluhut ab", das schafft aber nur mehr Distanz. Eine Möglichkeit sind Fragen: "Woher hast du das? Warum glaubst du der Quelle?" Fragen sind ein mächtiges rhetorisches Mittel, denn sie lenken ein Gespräch. Das ist gerade bei Verschwörungsgläubigen zu beobachten, die häufig suggestive Fragen stellen wie "Was hat es mit dem Coronavirus wirklich auf sich?" Diskutieren ist unglaublich mühsam und man sollte keine zu hohen Erwartungen haben. Verschwörungsgläubige weichen gerne Argumenten aus, springen zum nächsten Thema. Man versucht in einer Diskussion oft, die andere Person zu überzeugen, aber das ist sehr schwierig. Setzen Sie sich lieber realistische Ziele. Ein Erfolg kann bereits sein, wenn das Gegenüber den Hauch eines Zweifels verspürt.

    Zur Person: Ingrid Brodnig, geboren 1984 in Graz, ist Autorin und Journalistin. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Gesellschaft, ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist der Umgang mit Desinformation und Hasskommentaren. Sie hat fünf Bücher verfasst, zuletzt "Einspruch! Fake News und Verschwörungsmythen kontern".

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