Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Interview: Lehrerpräsident: "Dürfen Durchseuchung der Schulen nicht zulassen"

Interview

Lehrerpräsident: "Dürfen Durchseuchung der Schulen nicht zulassen"

    • |
    Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, kritisiert eine mangelnde Vorbereitung auf eine vierte Welle.
    Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, kritisiert eine mangelnde Vorbereitung auf eine vierte Welle. Foto: Armin Weigel, dpa

    Mit welchen Sorgen blicken die Lehrerinnen und Lehrer auf den Start des neuen Schuljahres angesichts der viel ansteckenderen Delta-Variante?

    Heinz-Peter Meidinger: Natürlich treibt uns die Sorge um, dass die vierte Welle neuerliche starke Einschränkungen des Präsenzunterrichts zur Folge haben wird. Während die Lehrkräfte inzwischen nach unseren Rückmeldungen zu über 90 Prozent vollständigen Impfschutz haben, sieht dies bei den Schülerinnen und Schülern noch ganz anders aus. In der Altersgruppe bis zwölf Jahren ist derzeit noch niemand geimpft, weil es für diese Altersgruppe noch keinen zugelassenen Impfstoff gibt. Bei den von 13- bis 17-Jährigen kam die allgemeine Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission so spät, dass wir trotz einer sehr großen Impfbereitschaft der Eltern und Jugendlichen, trotz großem Andrang bei den Kinderärzten bis zum Schulstart für die Mehrheit keinen vollständigen Impfschutz haben werden.

    In Bundesländern, in denen die Schule wieder begonnen hat, steigen die Infektionszahlen überdurchschnittlich. In Nordrhein-Westfalen sind sie doppelt so hoch wie im Bundesschnitt …

    Meidinger: Das Beispiel NRW zeigt, wie schnell durch Reiserückkehrer und die vielen Kontakte, die Kinder und Jugendliche auch außerhalb der Schule untereinander haben, die Inzidenzzahlen gerade bei den Heranwachsenden wieder durch die Decke gehen können. Wenn NRW heute insgesamt eine Inzidenz von über 100 hat, dann reden wir in der hauptbetroffenen Gruppe der Jugendlichen über zwei- und dreifache Größenordnungen, also Inzidenzen von teils über 300. Diese Entwicklung werden wir wohl in wenigen Wochen auch in Bayern erleben. Wir wollen es als Lehrerverband auch, dass Präsenzunterricht beim Schulstart möglichst vollständig stattfindet, aber nicht, indem man Gesundheitsschutzmaßnahmen herunterfährt und vor der Infektionsgefahr an Schulen kapituliert.

    „Vorbereitung des Schuljahres suboptimal gelaufen“

    Haben die Politiker diesmal die Sommerferien besser genutzt, um einen sicheren Unterricht vorzubereiten?

    Meidinger: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die immer gleich auf der Politik herumhacken. Allerdings kommt man um die Feststellung nicht herum, dass auch bei der Vorbereitung dieses Schuljahres wieder vieles suboptimal gelaufen ist. Das fängt damit an, dass bis heute nicht klar ist, nach welchen Vorgaben, Kriterien und Regeln der Schulunterricht laufen soll. Es setzt sich fort bei dem Trauerspiel um die Anschaffung von Raumluftfilteranlagen, wo es nach wie vor eine große Zurückhaltung vieler Kommunen gibt. Und es endet damit, dass wir immer noch bei der digitalen Infrastruktur der Schulen große Defizite haben, fast die Hälfte hat nach wie vor kein schnelles Internet, was modernen, videokonferenzgestützten Distanzunterricht enorm erschwert.

    Viele Länder setzen auf unterschiedliche Rezepte wie Luftfilter oder Regeln für Lüften und Maskentragen. Was hat sich bewährt?

    Meidinger: Wir haben in den Unterrichtsräumen zwei große Übertragungswege bei Infektionen: Das eine ist der direkte Kontakt, das andere ist die Übertragung durch Aerosole. Gegen Infektionen durch direkten Kontakt helfen Atemschutzmasken, gegen Aerosole Raumluftfilteranlagen, Lüften und Atemschutzmasken. Ich halte es für falsch, da eine Maßnahme gegen die andere zu stellen. Der beste Gesundheitsschutz besteht bei einer Kombination aus allen drei Maßnahmen. Nur aufs Lüften zu setzen, wie es leider manche Länder und zahlreiche Schulträger tun, reicht in keiner Weise aus. Laut einer Studie der Uni Stuttgart müsste man alle zehn bis zwölf Minuten einige Minuten quer- und stoßlüften, um einen angemessenen Luftaustausch zur Verringerung der Aerosolbelastung zu erreichen. Kippen von Fenstern reicht nicht aus. Das sind Anforderungen, die man in der Praxis niemals erreichen wird.

    „Große Luftfilter-Versprechen erweisen sich als leer“

    Gibt es denn ausreichend Luftfilter?

    Meidinger: Ich fürchte, dass die großen Versprechungen, die im Hinblick auf die Ausstattung von Klassräumen mit Raumluftfilteranlagen von der Politik gemacht worden sind, sich als weitgehend leer erweisen werden. Selbst in Bayern, das zusammen mit Hamburg mehr für eine flächendeckende Versorgung getan hat als andere Bundesländer, werden wir zum Schulstart Mitte September nur maximal 30 Prozent aller Unterrichtsräume entsprechend ausgestattet haben.
     

    „Dann kann man die Tests gleich ganz sein lassen“

    Alle Landesregierungen versprechen, dass dennoch am Präsenzunterricht festgehalten werden soll. Halten Sie das für realistisch?

    Meidinger: Falls, wie vorhergesagt, Inzidenzen in der Bevölkerung von 400 und mehr erreicht werden, bedeutet das für die Altersgruppe der weitgehend ungeimpften Kinder und Jugendlichen Inzidenzwerte von weit jenseits der 1000. Damit werden wir an jeder Schule jede Woche Infektionsfälle und Quarantänemaßnahmen haben. Das führt auch ohne Schulschließungen immer wieder zu schmerzhaften Einschränkungen des Präsenzunterrichts. Verschiedene Länder, auch Bayern, planen nun, Quarantänemaßnahmen erheblich lockerer zu handhaben und teilweise außer den Infizierten niemanden mehr in Quarantäne zu schicken. Das halte ich für gefährlich, weil man dadurch sehr schnell die Kontrolle über das Infektionsgeschehen an Schulen zu verlieren droht. So zu tun, als ob es keine Ansteckungsgefahr über Aerosole gibt oder gar nicht einmal die Banknachbarn in Quarantäne zu schicken, wie in NRW jetzt angeordnet, wird dazu führen, dass sich Infektionen auch innerhalb der Schulen stark ausbreiten. Wenn die Politik das in Kauf nehmen will, wenn Infektionen nicht mehr zur Kontaktnachverfolgung genutzt werden, dann kann man die Tests gleich ganz sein lassen.

    Experten warnen vor einem unverantwortlichen Experiment einer „Durchseuchung“ von Schulklassen ...

    Meidinger: Auch wenn Kinder seltener schwer erkranken, dürfen wir eine Durchseuchung der Schulen nicht zulassen. Neuere amerikanische Studien haben herausgefunden, dass die Hospitalisierungsquote bei infizierten Kindern zwischen 0,3 bis 1,7 Prozent liegt. Bezogen auf Deutschland bei knapp elf Millionen Schülern hieße das, dass zwischen 30.000 und 180.000 in Krankenhäusern behandelt werden müssten, von eventuellen Long-Covid-Folgen mal völlig abgesehen. Das, glaube ich, darf kein Politiker verantworten.

    Derzeit ringt die Politik um neue Regeln anstelle der Inzidenz für Corona-Maßnahmen. Gerät dabei die Lage der Schulen aus dem Blickwinkel?

    Meidinger: Die Mehrzahl der Erwachsenen ist bereits vollständig geimpft, insbesondere die gefährdeten Gruppen. Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass man die bisherigen Inzidenzgrenzen nach oben verschiebt. Sich jetzt aber an den Schulen vollständig von Inzidenzen zu verabschieden und beispielsweise nur noch auf die Belegung von Intensivbetten abzustellen, halten wir als Lehrerverband für falsch. Inzidenzquoten sind ein Frühwarnsystem. Wenn die Krankenhäuser überquellen, ist es für Gegenmaßnahmen meistens zu spät. Die These, dass Schulen am Infektionsgeschehen keinen Anteil hätten, war noch nie zutreffend, auch wenn sie die Kultusministerkonferenz in der Vergangenheit mantrahaft wiederholt hat. Jetzt, da eindeutig klar ist, dass sich die Deltavariante am schnellsten unter Jugendlichen verbreitet, ist eher das Gegenteil richtig. Schulen sind auf jeden Fall mögliche Stätten der Weiterverbreitung und haben bei mangelnder Vorsicht auch Superspreaderpotenzial. Die Politik ist gut beraten, diese Gefahr sehr ernst zu nehmen.

    Zur Person: Heinz-Peter Meidinger, 66, stammt aus Regensburg, war Gymnasiallehrer und ist seit Juli 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbands.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden