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Interview: Kevin Kühnert: "SPD muss Kanzlerkandidatur klären"

Interview

Kevin Kühnert: "SPD muss Kanzlerkandidatur klären"

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    Juso-Bundeschef Kevin Kühnert beim Besuch unserer Redaktion: „Nach 15 Jahren Angela Merkel gibt es ein Bedürfnis nach größeren politischen Entscheidungen.“
    Juso-Bundeschef Kevin Kühnert beim Besuch unserer Redaktion: „Nach 15 Jahren Angela Merkel gibt es ein Bedürfnis nach größeren politischen Entscheidungen.“ Foto: Ulrich Wagner

    Herr Kühnert, Ihr Ex-Parteichef Sigmar Gabriel hat Sie diese Woche zwar als „Supertalent“ gelobt, Ihnen aber den Rat gegeben Sie mögen erstmal einen Beruf erlernen, bevor Sie sich in die Spitzenpolitik begeben. Nehmen Sie sich das zu Herzen?

    Kevin Kühnert: Wir haben jetzt alle mitbekommen: Sigmar Gabriel hat ein neues Buch geschrieben. Offenkundig bin ich nun ungefragt zum Werbeträger dafür geworden und erdulde das mit sozialdemokratischer Gelassenheit.

    Wie bewerten Sie denn Herrn Gabriels jüngste berufliche Karriere? Passt es zur Sozialdemokratie, wenn ein Ex-Vorsitzender Aufsichtsrat der Deutschen Bank wird?

    Kühnert: Sigmar Gabriel kann als freier Mensch tun, was er möchte. Aber es war schon häufiger der Fall, dass manche nach einer langen politischen Karriere das Gespür dafür verloren haben, dass Sie mit der Partei identifiziert werden und Ihr Handeln nicht davon getrennt betrachtet werden kann. Die mindeste Erwartung ist, dass er nun im sozialdemokratischen Sinne sein Gewicht für den Schutz von Arbeitsplätzen einsetzt, die bei den Umstrukturierungen der Deutschen Bank zur Disposition stehen. Als guter Sozialdemokrat hat er das sicherlich im Blick.

    Die Hamburg-Wahl hat die Stimmung in der SPD wieder deutlich verbessert. Aber man hatte im Wahlkampf demonstrativ auf die neue Parteispitze verzichtet.

    Kühnert: Also ich bin auch Teil der neuen Parteispitze, war viel unterwegs im Hamburger Wahlkampf und freue mich, dass auch zahlreiche Jusos in die neue Bürgerschaft eingezogen sind. Jeder in der Partei freut sich über das Ergebnis wie auch über den Sieg bei der Oberbürgermeisterwahl in Leipzig. Das beweist die Großstadtstärke der SPD. Die vorsichtige Erholung der SPD hat auch mit den Wirrungen rund um Thüringen zu tun. Da konnte man sehen: Wenn es darauf ankommt, steht die SPD zu ihre Prinzipien und man kann sich da auf die SPD verlassen, wo andere Parteien wackeln und irrlichtern. Aber Hamburg hat auch erneut gezeigt, dass es auf glaubwürdige Kandidaten ankommt, je näher eine Wahl rückt. Nicht zum ersten Mal zeigt sich, dass wir Sozialdemokraten dabei eine große Stärke haben - auch gegenüber den Grünen.

    Kühnert: "Erwarten größeren Steigerungsschritt beim Mindestlohn"

    Aber Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans scheinen auch nicht überall bei Ihnen in der Partei so gut anzukommen…

    Kühnert: Ich glaube, der große Vorteil der beiden ist, dass sie nicht so stark mit der jüngeren Politik der SPD in Verbindung gebracht werden – etwa der Hartz-IV-Diskussion. Sie können viel besser neue Konzepte repräsentieren, wie wir sie zur Zukunft des Sozialstaats schon beschlossen haben.

    Sind nicht viele enttäuscht worden, etwa jene die aus der Koalition aussteigen wollten?

    Kühnert: Wir haben auf dem Parteitag im Dezember beschlossen, dass mehr Tempo in die Koalition rein muss und verschiedene Themenbereiche neu verhandelt werden müssen. In dieser Verhandlungsphase sind wir jetzt, so erwarten wir im Koalitionsausschuss am Sonntag klare Ergebnisse. Wir fordern zum Beispiel ein enormes Investitionspaket in Milliardenhöhe für die kommenden zehn Jahre. Wir schieben in Bund, Ländern und Kommunen einen riesigen Investitionsstau vor uns her, da muss sich auch die Union mal bewegen. Auch fordern wir einen größeren Steigerungsschritt beim Mindestlohn in Richtung von zwölf Euro pro Stunde und einen verbindlichen Ausbaupfad für die ins Stocken geratenen Erneuerbaren Energien.

    Wie wollen Sie den Ausbau der Erneuerbaren wieder in Schwung bringen?

    Kühnert: Der Deckel für den Ausbau der Photovoltaik muss wegfallen, die Grenze von 52 Gigawatt wird bald erreicht. Schon jetzt werden vielfach keine neuen Solaranlagen mehr gebaut. Wir machen Druck, CDU und CSU bummeln. Das nervt. Wir brauchen eine Lösung bei den Windkraftanlagen an Land. Wir setzen uns dafür ein, dass Anwohner und Kommunen endlich finanziell profitieren, um die Akzeptanz von Windkraft zu steigern. Die Abstandsregeln sind vielfach gar nicht Auslöser des Unmuts Wir brauchen jetzt Planungssicherheit, sonst schaffen wir die Energiewende und mit ihr die Klimaziele nicht.

    Kühnert fordert Finanzierung des ÖPNV über Gebühren statt Ticketverkauf

    Beim Verkehr werden kaum Fortschritte bei der Einsparung von Treibhausgasen erreicht. Würde die SPD ein Tempolimit umsetzen?

    Kühnert: Wir wollen ein Tempolimit, aber das ist nicht der entscheidende Punkt bei der Verkehrswende. Wir brauchen einen viel stärkeren Umstieg auf öffentlichen Nahverkehr, aber hier ist das Angebot nicht gut genug. Wir brauchen eine andere Finanzierung des ÖPNV. Wir haben durchgesetzt, dass mehrere Modellregionen mit dem 365-Euro-Ticket, das die SPD auch in Augsburg fordert, als Beispiel vorangehen. Ich würde noch weitergehen: Wir sollten erwägen, von einer Ticket- zu einer Gebührenfinanzierung zu kommen. Etwa mit einer bundesweiten Mobilitätsabgabe, die nicht pauschal gilt, sondern sich am Einkommen und dem ÖPNV-Angebot vor Ort orientiert. Wo nur zwei Mal am Tag ein Bus fährt, wäre es ungerecht, die Leute stärker zu belasten. Aber der Markt regelt die Verkehrswende offenkundig nicht.

    Beim Koalitionsausschuss soll auch die Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge ein Thema sein. Soll Deutschland hier vorangehen?

    Kühnert: Viele SPD regierte - und auch andere - Kommunen und Länder haben sich zu Solidarität und Humanität bereiterklärt, weil ausreichend Kapazitäten vor Ort vorhanden sind. Wir erwarten, dass der Bundesinnenminister das auf europäischer Ebene mit Nachdruck zur Nachahmung empfiehlt und Partner für ein Bündnis der Vernunft findet - auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen. Darüber hinaus braucht es endlich ein solidarisches Verteilsystem in Europa. Die, die zur Aufnahme bereit sind, sollen durch die finanziell unterstützt werden, die sich der humanitären Hilfe verweigern. Zum Beispiel sind auch manche polnische Kommunen bereit, Geflüchtete aufzunehmen. Sie werden aber von ihrer Regierung aus ideologischen Gründen ausgebremst.

    Aber auch von der SPD wurde gerade im Bundestag ein nationaler Alleingang bei der Aufnahme von Flüchtlingen ohne andere europäische Partner strikt abgelehnt…

    Kühnert: Unsere Fraktion hat sich gegen einen nationalen Alleingang positioniert, nicht gegen Hilfe. Die ist überfällig und daran arbeiten wir auf allen Ebenen. Natürlich ist eine europäische Lösung das Ziel, aber wir können uns abschminken, dass es eine Lösung aller EU-Staaten geben wird. Deshalb fordern wir, dass Staaten, die nicht zur Aufnahme bereit sind, sich stattdessen finanziell beteiligen. Deshalb sind Angebote von Kommunen so wichtig. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir in den nächsten Tagen nicht bei der Frage der Versorgung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter zu einer Lösung kommen können – sofern das in anderen Parteien nicht weiter zum innerparteilichen Wahlkampf missbraucht wird. Friedrich Merz zieht ja nur noch mit dem Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ durch die Lande. Der Ruf nach maximaler Abschottung und die Ablehnung humanitärer Hilfe ist Wahlkampf auf dem Rücken der Schwächsten, löst aber mal wieder kein Problem.

    Schließen Sie denn das Risiko aus, dass sich eine Krise von 2015 wiederholen könnte aus?

    Kühnert: Die Frage ist doch, was darf sich nicht wiederholen? Im Moment halte ich diese Aussage für eine parteipolitische Floskel. Es gibt natürlich ein gefühltes Unwohlsein darüber, wie das damals gelaufen ist – übrigens bei allen Beteiligten. Nicht nur bei denen, die eh gegen Migration sind, sondern auch bei den ehrenamtlichen Helfern. Die sagen auch, dass sich die damalige kommunale Hilflosigkeit nicht wiederholen darf, die von Ehrenamtlichen aufgefangen werden musste. Auch ich finde, dass das damals nicht optimal gelaufen ist.

    Zum Beispiel?

    Kühnert: 2015 hatte jeder gesagt, wir müssen jetzt etwas zur Bekämpfung der Fluchtursachen tun. Aber diejenigen, die jetzt am lautesten nach Abschottung rufen, haben wenig dafür getan. Ich höre nichts davon, wie man beispielsweise die Situation in Afghanistan mit der völligen ökonomischen Perspektivlosigkeit der Menschen dort verbessern will. Und ich verstehe übrigens auch nicht, warum mehrere Dutzend Lkw mit Hilfslieferungen für die griechischen Inseln seit geraumer Zeit vor Ort blockiert werden. Will die dortige Regierung bewusst weiter für Verelendung sorgen? Das geht auf die Kosten der Schwächsten und ist zutiefst verwerflich.

    Kühnert: Nach Merkel Bedürfnis nach größeren politischen Entscheidungen

    Viele Politiker fordern ein stärkeres militärisches Engagement von Deutschland in der Welt, um die Konflikte wie in Syrien einzudämmen?

    Kühnert: Wenn mehr Militär in der Region ein Heilmittel wäre, dann wäre das heute der friedlichste Ort der Welt. Wir sehen doch in Syrien, dass wir es nicht mehr mit klassischen kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit zu tun haben. Da stehen sich nicht mehr zwei Armeen an einer klaren Frontlinie gegenüber. Stattdessen finden unübersichtliche hybride asymmetrische Konflikte statt, mit Stellvertreterkriegen und vielen Beteiligten von außen. Hier muss es zuallererst um Schutz und Hilfskorridore für die Zivilbevölkerung gehen.

    Sie sind jetzt stellvertretender Parteivorsitzender. Haben Sie sich jetzt etwas mehr mit der Großen Koalition angefreundet?

    Kühnert: Nein, das habe ich nicht. Unsere Forderung war aber nicht, die große Koalition zu verlassen, sondern von Anfang an nicht hineinzugehen. Dann haben aber zwei Drittel der SPD-Mitglieder eine andere Entscheidung getroffen. Wir haben immerhin auf dem Parteitag erreicht, dass nachgeschärft werden muss. Die SPD wird leider häufig mit der Regierung als solcher gleichgesetzt und deshalb inhaltlich kleiner gemacht, als sie ist. Dabei ist nahezu alles, was in dieser Koalition gut gelaufen ist, von der SPD ausgegangen. Die Grundrente ist nur das jüngste Beispiel. Nach 15 Jahren Angela Merkel gibt es ein Bedürfnis nach größeren politischen Entscheidungen. Zum Beispiel schieben wir die Frage nach der Zukunft der Rentenpolitik oder die Einführung einer Bürgerversicherung wegen grundsätzlicher Konflikte mit der Union lange vor uns her. Es ist mehr eine Reparatur- als eine Gestaltungskoalition. Dabei gibt unser Programm so viel mehr her – die politischen Mehrheiten aber leider nicht.

    Die CDU trifft mit der Vorsitzenden-Wahl im April eine Vorentscheidung für die Kanzlerkandidatur. Steigt damit der Druck auf die SPD auch ihre Personalfrage zu klären?

    Kühnert: Unser Hauptinteresse ist, dass wir diese Frage schneller klären als bei den letzten Malen. Wir sind die letzten zwei Mal spät und unstrukturiert in die Entscheidung hineingestolpert. Kandidat und Programm haben nicht gut harmoniert, die Kampagne war nicht gut vorbereitet. Deshalb fangen wir diesmal viel früher an und sind schon jetzt in der Vorphase des Wahlkampfs, auch um schnell reagieren können. Wir werden uns nicht erst 2021 mit der Frage der Kanzlerkandidatur beschäftigen.

    Also der Kanzlerkandidat der SPD wird auch schon in diesem Jahr feststehen?

    Kühnert: Das habe ich nicht allein zu entscheiden. Es gibt aber einen breiten Willen in der Partei, die Öffentlichkeit damit nicht ewig auf die Folter zu spannen. Wir werden uns die Zeit nehmen, die es braucht. Die Vorsitzenden haben auf jeden Fall ein Vorschlagsrecht. Wir haben seit Jahren ein geregeltes Verfahren, dass es bei mehreren Kandidaten oder Kandidatinnen eine Urwahl geben kann. Ich glaube aber, es gibt ein Interesse daran, dass man sich das nach Möglichkeit spart und zu einem gemeinsamen Vorschlag kommt. Und es kann inzwischen gut sein, dass eine Partei mit 24, 25 Prozent am Ende auch den Kanzler oder die Kanzlerin stellt. Die Bäume für die Parteien wachsen in unserer zergliederten Gesellschaft nicht mehr in den Himmel.

    Die SPD regiert in mehreren Ländern mit den Linken. Wie bewerten Sie den Skandal um die Entgleisungen einer Linken-Politikerin, Reiche erschießen zu wollen und der laxen Reaktion von Parteichef Bernd Riexinger (mehr dazu). Reicht dessen Entschuldigung?

    Kühnert: Ich habe nicht zu bewerten, ob Riexinger noch die Partei repräsentieren kann. Meine Erfahrung ist, dass das nicht der Sound der Linken ist. Der Wortbeitrag war eine Geschmacklosigkeit sondergleichen. Und von politischem Spitzenpersonal ist ein klarer Wertekompass zu erwarten, der gegen eine solche Wortwahl sofort einschreitet. Wir können nicht beklagen, dass das gesellschaftliche Klima verroht, dass aus Worten Taten werden und dann so etwas tolerieren.

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