Herr Juncker, fünf Jahre sind vergangen, seit die Flüchtlingskrise ganz Europa auf den Kopf stellte. Wir haben alle noch die Bilder der Flüchtlingstrecks im Kopf. Was ging in Ihnen vor, als Sie erkannten: Diese Menschen drängen nach Europa?
Jean-Claude Juncker: Mir war schnell klar, dass da ein großes Problem auf die Europäische Union zurollt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ich haben sehr bald erkannt, dass die große Zahl der Hilfesuchenden, die erst nach Ungarn und dann nach Österreich kamen, Hilfe brauchten. Und dass wir die Situation nur dadurch würden entspannen können, dass wir die Flüchtlinge nach Deutschland durchlassen. Frau Merkel hat mir gesagt, dass sie die Grenzen nicht schließen werde. Das ist ein wichtiger Satz, denn später wurde oft behauptet, die Bundeskanzlerin habe die Grenzen geöffnet. Das war gar nicht nötig, denn sie waren ja offen. Sie hat die Grenzen nur nicht geschlossen, was ich auch im Rückblick als die einzig richtige Entscheidung bezeichnen kann.
Österreich und Ungarn waren überfordert. Aber hat die Regierung in Budapest nicht auch einiges getan, um die Ankommenden nur möglichst schnell durchzuwinken?
Juncker: Die beiden Länder waren tatsächlich überfordert. Das große und starke Deutschland war das Land, das damit fertig werden konnte. Was hätte die Kanzlerin denn machen sollen? Die Menschen vor der deutschen Grenze in Massenlagern halten, möglicherweise auf illegale Einwanderer schießen lassen? Das wäre doch völlig undenkbar gewesen. Ich habe damals oft gesagt: Die Geschichte wird Frau Merkel recht geben. Und das hat sie auch.
„Wir schaffen das“, sagte die Bundeskanzlerin damals. Hat Europa es geschafft?
Juncker: Dieser Satz von Frau Merkel ist oft falsch verstanden worden. Sie hat ja nicht gesagt, dass wir jetzt das ganze Leid der Welt in Europa oder und Deutschland aufnehmen und heilen können. Es ging immer um Hilfe für diese Menschen. Deutschland hat auf den Ansturm adäquat und solidarisch reagiert. In der Geschichte wird bleiben, dass Frau Merkel sich mit vielen anderen zusammen bemüht hat, Hilfe zu geben, die der Not der Menschen entsprochen hat. Ich fand das damals sehr mutig und couragiert.
Es gab auch in der Bevölkerung eine Willkommenskultur.
Juncker: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn die Bürger der Bundesrepublik haben die Flüchtlinge aufgenommen, weil sie erkannt haben, dass es Menschen in Not waren. Diese Solidarität war beeindruckend. Insofern hat Deutschland diese Krise beeindruckend bewältigt. Von der Europäischen Union kann man das nicht sagen.
Wenn wir über diese Zeit reden, hat jeder ein anderes Bild im Kopf. Da gab es das bedrückende Foto von dem kleinen ertrunkenen Jungen Alan Kurdi, dessen lebloser Körper an den Strand gespült wurde. Das Bild der vielen Bürger, die in München Ankommende jubelnd begrüßen. Oder auch das Foto von dem Lastwagen, in dem Flüchtlinge erstickt sind. Gibt es ein Foto, dass Ihnen noch immer nachgeht?
Juncker: Ich brauche eigentlich kein Bild der Not, um mich für europäische Lösungen einzusetzen. Aber es ist richtig: Das Bild des kleinen ertrunkenen Jungen an der Küste hat mich im Herzen getroffen. Es war eigentlich nicht auszuhalten. Wir wussten, dass solche Tragödien passieren. Das Foto konfrontierte uns damit, dass wir hier nicht nur vor einem politischen Problem standen, sondern vor einer zutiefst menschlichen Katastrophe. Ich dachte eigentlich, dass man für diese Erkenntnisse solche schlimmen Bilder nicht brauchte. Aber es war nicht so. Wir mussten es sehen und den Schmerz spüren. Ich habe das Bild immer noch vor Augen.
Immer wieder gab es diese furchtbaren Nachrichten von Katastrophen im Mittelmeer mit etlichen hundert Toten. Wie ist man in Ihrer EU-Kommission damit umgegangen. Hat das Betroffenheit ausgelöst?
Juncker: Natürlich war das so. Und es gab dann die, die sagten: Wir müssen sofort etwas tun, sollten helfen und dafür sorgen, dass solche Ereignisse sich nicht wiederholen. Aber es gab auch die anderen, die daran erinnerten, dass wir schon sehr genau darauf achten sollten, wer da nach Europa drängt. Ich habe in solchen Momenten immer gedacht: Jetzt sind wir gefordert. Denn Europa muss der Platz in der Welt bleiben, wo Menschen, die aus politischen oder sonstigen Gründen verfolgt werden, Schutz bekommen. Die EU hat das auch getan und bisher insgesamt 770.000 Hilfesuchenden Asyl gewährt. Aber diese Solidarität kam halt nicht von allen. Das habe ich als Niederlage der Europäischen Union empfunden.
Ihre Kommission hat damals bereits eine faire Verteilung, also eine Quotenregelung, vorgeschlagen hat. Es gibt sie bis heute nicht.
Juncker: Ich hatte wirklich geglaubt, dass diese Kultur des Umarmens und Aufnehmens in allen Ländern vorhanden sei. Und es hat mich sehr enttäuscht, dass das nicht der Fall war. Griechenland und Italien wurden mit dem Problem alleingelassen, dass bei ihnen „angeschwemmt“ wurde, wenn ich das so ausdrücken darf. Ich habe am Anfang wirklich gedacht, dass sich alle Staaten mit offenen Armen diesen Flüchtlingen zuwenden würden. Das ist leider nicht passiert. Mein Kampf dafür hat mir bei einigen Regierungen viel Ärger und persönliche Verunglimpfung eingebracht.
Sie haben immer wieder neue Vorstöße unternommen…
Juncker: Ja, ich habe vor allem versucht, Hilfe wenigstens für unbegleitete Kinder zu organisieren. Sie sind doch die schwächsten Glieder der internationalen Gesellschaft. Dass es nicht möglich war, diesen Kindern so beizustehen, als ob es unsere Kinder wären, hat mich regelrecht entsetzt. Mir hat ein Regierungschef auf meinen Appell für unbegleitete Kinder gesagt: „Wir haben genug Waisenkinder in unserem Land.“ Das hat mich – um es freundlich auszudrücken – verstört. Ich habe mich damals wirklich gefragt, warum wir so abgebrüht geworden sind.
Zumal die Länder in Europa ja zu früheren Zeiten oft genug solidarisch waren und Vertriebene und Flüchtlinge aufgenommen haben.
Juncker: Ja, und dabei haben Staaten und ihre Bevölkerung Großmut und Opferbereitschaft gezeigt. Nach dem Krieg wurden viele hunderttausend Vertriebene aufgenommen und integriert. Es hat mich sehr gewundert, dass es Menschen gab, die angesichts dieses Teils der deutschen Geschichte die Politik von Frau Merkel kritisierten. Umso wichtiger ist es mir bis heute, an das Engagement vieler Millionen Bürger zu erinnern, die Hilfesuchende aufgenommen haben, die sich um diese Flüchtlinge gekümmert und bei der Integration geholfen haben. Deutschland hat das gut gemacht, andere waren da weniger gut.
Die EU-Kommission hat schon 2014 ein Asylkonzept vorgelegt. Jeder weiß, dass es auf diese faire Verteilung von Ankommenden hinauslaufen wird. Und trotzdem bewegt sich fast nichts. Wie ist das zu erklären?
Juncker: Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Fazit stimmt. Die jetzige Kommission arbeitet offenbar gerade an einem Konzept, das eine Lösung möglich machen soll. Ich hoffe sehr, dass auch die Mitgliedstaaten inzwischen gereift sind und die Situation differenzierter sehen. Ich weise jedenfalls die Ansicht strikt zurück, dass die Aufnahme von Flüchtlingen und Verfolgten zu einer Islamisierung Europas führen könnte. Man hat mir in Ungarn vorgeworfen, ich wolle die EU unter ein islamisches Kommando stellen. Das ist wirklich grober Unfug.
Zumal die Forderung nach konsequenter Zurückweisung und Abschiebung jener Zuwanderer, die sich nicht auf Asylschutz berufen können, immer Bestandteil des Kommissionskonzeptes war.
Juncker: Das muss auch so bleiben. Denn natürlich ist der Asylschutz etwas sehr Kostbares, den wir jenen gewähren müssen, die ihn brauchen. Die Abschiebung der anderen gehört zu einem umfassenden Asylkonzept dazu.
Hat sich im Rückblick der Deal mit der Türkei bewährt?
Juncker: Ich war ein engagierter Befürworter dieses Deals. Denn man muss sich ja in Erinnerung rufen, dass die Türkei über drei Millionen Flüchtlinge bei sich aufgenommen hatte. Das galt übrigens auch für den Libanon und Jordanien. Die Länder haben Gewaltiges geleistet und prozentual auf die Bevölkerung umgerechnet weitaus mehr Solidarität geleistet, als von Europa je erwartet wurde. Und trotzdem gab es viele, die nach der Losung „Hetze statt Herz“ gehandelt haben.
Es gab die schlimmen Bilder, aber es gab ja sicherlich auch kleine und große Erfolgsgeschichten. Was ist Ihnen da noch in Erinnerung?
Juncker: Es gibt da die vielen kleinen Beispiele, wo aus Flüchtlingen, die nach den schlimmsten Erfahrungen und Erlebnissen in Krieg und Verfolgung geflohen waren, stolze Männer und Frauen geworden sind, die die Sprache gelernt haben, die einen Arbeitsplatz bekamen und sich bewährt haben. Da ist wirklich Großes geschehen, und dazu haben viele Bürger beigetragen.
Wohin entwickelt sich die Europäische Union in den kommenden Jahren? Was würden Sie dieser Europäischen Union für die Zukunft raten?
Juncker: Mehr Herz. Die Gemeinschaft muss sich mehr um die Menschen kümmern, die sich da auf diesen langen Weg gemacht haben. Europa sollte sich seiner Geschichte erinnern. Es gibt derzeit rund 70 Millionen Flüchtlinge auf der Welt – die meisten davon in Afrika. Die Gemeinschaft kann dieses Problem natürlich nicht allein und nur auf ihrem Boden lösen. Aber Europa muss eine Zuflucht für die bleiben, die verfolgt sind.
Zur Person: Jean-Claude Juncker (65) war von 2014 bis 2019 Präsident der Europäischen Kommission. Der Christdemokrat aus Luxemburg gilt als einer der erfahrensten Europäer überhaupt. Von 1989 bis 2009 war er Finanzminister seines Landes, von 1995 bis 2013 gleichzeitig auch Premierminister.
Dieser Text ist Teil unserer Themenwoche "5 Jahre Flüchtlingskrise - Wir schaffen das". Alle Artikel finden Sie hier.
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