Man kann kaum fassen, dass es schon ein Jahr her ist, seit die ersten Corona-Fälle in Deutschland bei uns in der Region auftraten. Niemand dachte, dass das so lange dauern wird. Wie gut sind wir bisher durch die Krise gekommen?
Annalena Baerbock: Das Glas ist halb voll und halb leer zugleich. Diese Pandemie hat die ganze Welt kalt erwischt. Damals dachte man, das ist so weit weg in China, aber natürlich hätte man alle Warnzeichen sofort erkennen müssen. Seit Beginn der Pandemie war es dann ein ständiges Auf und Ab. Auf der einen Seite sind wir als Gesellschaft einigermaßen gut durchgekommen. Es gibt eine riesige Solidarität in unserem Land. Alle sind zusammengerückt, man schaut auf seine Nachbarn und diejenigen, die niemanden haben. Auf der anderen Seite ist die Lage natürlich dramatisch. Viele Menschen haben ihre Liebsten verloren, ihren Vater, ihre Mutter, ihre Freundinnen. Dieses Virus hat Familien kaputt gemacht. Von den Vorkehrungen, die möglich gewesen wären, hätte man mehr treffen müssen. Deshalb müssen wir aus dem, was nicht gut gelaufen ist, lernen. Allerspätestens jetzt gilt es, die Voraussetzungen zu schaffen, dass wir aus dieser Pandemie auch wieder gut rauskommen.
Chronologie der Corona-Pandemie in Deutschland
Im Januar 2020 ist die erste Corona-Infektion in Deutschland bekannt geworden. Ein Rückblick:
27. Januar: Erste bestätigte Infektion in Deutschland. Zwei Wochen später ist der Mann aus Bayern wieder gesund.
25./26. Februar: Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen melden erste nachgewiesene Fälle. Weitere Bundesländer folgen, am 10. März hat Sachsen-Anhalt als letztes Land seinen ersten Fall.
9. März: In NRW gibt es die ersten Todesfälle innerhalb Deutschlands. Die Zahl der Infektionen steigt bundesweit auf mehr als 1000.
12./13. März: Immer mehr Theater und Konzerthäuser stellen den Spielbetrieb ein. Die Fußball-Bundesliga pausiert.
16. März: An den Grenzen zu Frankreich, Österreich, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz gibt es Kontrollen und Einreiseverbote. In den meisten Bundesländern sind Schulen und Kitas geschlossen.
17. März: Mehrere Konzerne kündigen an, ihre Fabriken vorübergehend zu schließen.
22. März: Verbot von Ansammlungen von mehr als zwei Menschen. Ausgenommen sind Angehörige, die im eigenen Haushalt leben. Cafés, Kneipen, Restaurants, aber auch Friseure zum Beispiel schließen.
15. April: Auf eine schrittweise Aufnahme des Schulbetriebs ab 4. Mai verständigen sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Länderchefs.
20. April: Geschäfte unter 800 Quadratmetern Fläche dürfen wieder öffnen. Als erstes Bundesland führt Sachsen die Maskenpflicht für ÖPNV und Einzelhandel ein. Alle anderen ziehen nach.
22. April: Für Firmen, Arbeitnehmer und Gastronomie werden milliardenschwere Hilfen beschlossen.
6. Mai: Die Länder bekommen weitgehende Verantwortung für die Lockerung von Beschränkungen - etwa für Hotels, Gastronomie, Fahrschulen, Schwimmbäder und Fitnessstudios.
16. Mai: Sachsen-Anhalt registriert als erstes Bundesland seit Ausbruch der Pandemie keine Neuinfektionen im Vergleich zum Vortag. Die Fußball-Bundesliga legt wieder los - ohne Fans in den Stadien.
16. Juni: Im Kampf gegen das Virus geht eine staatliche Warn-App an den Start. Sie soll dabei helfen, Infektionen nachzuverfolgen.
29. August: Etwa 40.000 Menschen protestieren in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen. Demonstranten durchbrechen die Absperrung vor dem Reichstag und stürmen auf die Treppe.
30. September: Angesichts wieder steigender Infektionszahlen fordert die Kanzlerin zum Durchhalten auf. "Wir riskieren gerade alles, was wir in den letzten Monaten erreicht haben", sagt Merkel im Bundestag.
7./8. Oktober: Die Bundesländer beschließen ein Beherbergungsverbot für Urlauber aus inländischen Risikogebieten.
22. Oktober: Die Zahl der Neuinfektionen binnen eines Tages hat erstmals den Wert von 10.000 überschritten. Das Robert Koch-Institut (RKI) macht vor allem private Treffen dafür verantwortlich.
2. November: Ein Teil-Lockdown mit Einschränkungen bei Kontakten und Freizeitaktivitäten soll die zweite Infektionswelle brechen.
9. November: Als erste westliche Hersteller veröffentlichen Biontech und der US-Pharmakonzern Pfizer vielversprechende Ergebnisse einer für die Zulassung ihres Corona-Impfstoffs entscheidenden Studie.
18. November: Unter dem Protest Tausender in Berlin machen Bundestag und Bundesrat den Weg für Änderungen im Infektionsschutzgesetz frei.
25. November: Die Beschränkungen für persönliche Kontakte werden für weitere Wochen verschärft. Darauf verständigen sich Bund und Länder.
27. November: Die Zahl der nachgewiesenen Infektionen in Deutschland hat nach RKI-Daten die Millionenmarke überschritten.
2. Dezember: Als erstes Land der Welt erteilt Großbritannien dem Impfstoff von Biontech und Pfizer eine Notfallzulassung und startet seine Impfkampagne wenige Tage später.
16. Dezember: Der seit November geltende Teil-Lockdown reicht nicht aus. Der Einzelhandel muss mit wenigen Ausnahmen schließen.
18. Dezember: Die Zahl der binnen eines Tages gemeldeten Infektionen in Deutschland ist erstmals auf mehr als 30.000 gestiegen.
21. Dezember: Zum Schutz vor einer infektiöseren Virus-Variante dürfen keine Passagierflugzeuge aus Großbritannien mehr in Deutschland landen. Der Corona-Impfstoff von Biontech erhält von Brüssel die bedingte Marktzulassung. Somit können die Impfungen in der EU beginnen. Am 6. Januar wird auch der von Moderna zugelassen.
24. Dezember: Heiligabend im Zeichen der Pandemie. Familienfeiern sollen klein bleiben, Christmetten wenn überhaupt nur auf Abstand stattfinden. Zudem wird die in Großbritannien aufgetretene Variante des Coronavirus erstmals auch in Deutschland nachgewiesen.
26. Dezember: Einen Tag vor dem offiziellen Impfstart werden in einem Seniorenzentrum in Sachsen-Anhalt eine 101 Jahre alte Frau und etwa 40 weitere Bewohner geimpft.
27. Dezember: In allen Bundesländern beginnen die Impfungen. Zuerst sollen Menschen über 80, Pflegeheimbewohner sowie Pflegekräfte und besonders gefährdetes Krankenhauspersonal immunisiert werden.
1. Januar 2021: Deutschland kommt vergleichsweise ruhig ins neue Jahr. Der Verkauf von Silvesterfeuerwerk war verboten.
14. Januar: Das Statistische Bundesamt schätzt, dass die deutsche Wirtschaftsleistung 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 5,0 Prozent eingebrochen ist.
15. Januar: Mehr als zwei Millionen Corona-Fälle sind hierzulande bekannt geworden, knapp 45.000 Menschen sind an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Sars-CoV-2-Infektion gestorben.
19. Januar: Bund und Länder verlängern den Lockdown bis Mitte Februar. Zudem werden die besser schützenden FFP2-Masken oder OP-Masken in Bus und Bahn sowie beim Einkaufen obligatorisch.
21. Januar: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben in Deutschland bereits ihre erste Corona-Impfung erhalten, etwa 77.000 auch schon die zweite. (dpa)
Es wächst aber auch der Frust über die Corona-Maßnahmen. So haben wir uns daran gewöhnt, dass Infektionszahlen der Gesundheitsämter oft nicht zuverlässig sind, weil die Ämter nicht digital genug aufgestellt sind. Ist es nicht Ihre Aufgabe als Oppositionspartei, diese Probleme viel schärfer als bisher anzuprangern?
Baerbock: Für mich ist Opposition schon in guten Zeiten kein Selbstzweck nach dem Motto Draufhauen. Und erst recht in Krisenzeiten bedeutet es, die Dinge zu unterstützen, die wichtig und notwendig sind – aber da, wo es nicht gut läuft, den Finger in die Wunde zu legen und zu treiben. Etwa bei der mangelnden Digitalisierung. Die Probleme reichen viel weiter zurück: Schon 2015 haben wir mit Blick auf die Flüchtlingskrise festgestellt, dass die Asylbehörden völlig unzureichend digitalisiert waren und damals Disketten von einem Ort zum anderen getragen wurden. Das wäre eigentlich der allerspäteste Weckruf gewesen, unsere Verwaltung komplett zu digitalisieren. Dann wären jetzt nicht nur die Gesundheitsämter anders aufgestellt, sondern auch die Schulen. Aber man hat dazu nicht einmal die Sommerferien genutzt. Diese Bundesregierung fährt nur auf Sicht, anstatt vorausschauend zu handeln.
In der Flüchtlingskrise hat die Regierung Frank-Jürgen Weise als Wunderwaffe geschickt, um im Bundesamt für Flüchtlinge so aufzuräumen wie zuvor bei den Arbeitsagenturen. Warum passiert nun nichts Vergleichbares im Bereich der Gesundheitsämter?
Baerbock: Diese Frage müsste ja an die Regierung gehen. Und ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass wir in diesem Jahr eine neue Bundesregierung wählen und damit auch die Chance für eine andere Politik haben. Die Gesundheitsämter wurden in den letzten Jahrzehnten kaputtgespart. Es wurde überhaupt nicht in Vorsorge investiert, wir haben am Anfang der Pandemie gesehen, dass in Krankenhäusern kaum Schutzausrüstung vorhanden war. So etwas sollte in unserem Land unvorstellbar sein. Aber es regierte über viele Jahre der Gedanke, so etwas bringt kein Geld und liegt nur im Keller. Und allein die Unterstützung der Gesundheitsämter mit der Bundeswehr reicht nicht aus, hier hätte man in der Pandemie längst eine Schippe obendrauf legen müssen. Es wäre die Pflicht des Bundesgesundheitsministeriums gewesen, die Kommunen viel stärker zu unterstützen.
Ein ähnliches Thema sind derzeit die Schnelltest für den Heimgebrauch. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagt, das kann noch länger dauern. Können Sie das verstehen?
Baerbock: In diesem Punkt liegen wir dem Gesundheitsminister seit Wochen in den Ohren. Nicht nur mit Blick auf die Pflegeeinrichtungen, wo durchgehend getestet werden müsste. Auch für Kitas und Schulen wäre es wichtig, dass die Schnelltests zur Selbstanwendung zugelassen werden. Der Minister hatte vor Wochen gesagt, dies erst mit den Herstellern klären zu müssen. Jetzt können zwei Hersteller endlich solche Schnelltests anbieten, aber jetzt sagt Herr Spahn, dass er nicht so weit ist, sie zuzulassen. Das ist wirklich fatal. Klar, diese Tests bieten noch keine hundertprozentige Sicherheit. Aber wir können damit viel schneller einige Infektionsquellen herausfiltern. Es wäre die Aufgabe von Herrn Spahn, das jetzt schnellstmöglich auf den Weg zu bringen.
Für wie realistisch halten Sie angesichts der Lieferengpässe das Versprechen der Bundesregierung, bis Ende September, also kurz vor der Bundestagswahl, jedem Bürger ein Impfangebot zu machen?
Baerbock: Es wird offensichtlich immer schwieriger, dieses Versprechen einzuhalten. Man sollte nicht einfach Dinge versprechen. Der Staat muss vielmehr mit Hochdruck dafür sorgen, dass Impfdosen erhöht werden können. Und auch bei anderen Produkten gilt: Man hätte durch Abnahmegarantien in all diesen Bereichen, bei Schnelltests, aber auch bei den FFP2-Masken dafür sorgen müssen, dass die Produktion massiv hochgefahren wird.
Reicht es, immer nur von Verboten zu sprechen? Müsste es nicht auch um Öffnungsstrategien gehen? Der neue CDU-Chef Armin Laschet sagt, dafür sei nicht der richtige Zeitpunkt, weil man die Wirkung der britischen Virusmutation nicht kenne …
Baerbock: Wir sehen auf dramatische Weise, welche Auswirkungen die Mutation in anderen Ländern hat und verzeichnen bereits mehrere Fälle in Deutschland. Deshalb müssen wir doch dringend die Voraussetzungen für eine Öffnung schaffen: Ja, das sind eben neben FFP-2-Schutzmasken etwa Schnelltests oder Luftfilter. Wenn jetzt Armin Laschet sagt, wir müssten auf Sicht fahren, wiederholt man genau die gleichen Fehler. In den Sommerferien wurde nichts getan, um die Schulen auf die zweite Pandemiewelle vorzubereiten. Wir brauchen einen klaren Stufenplan, bei welchen Inzidenzwerten wir welche Bereiche wieder öffnen können und benötigen dabei klare Prioritäten. Das beginnt bei den Kleinsten unserer Gesellschaft. Wir dürfen nicht wieder den Fehler machen, als Erstes die Möbelhäuser zu öffnen – und irgendwann fällt dann jemandem ein, dass die Kinder auch mal wieder in die Schule müssten …
Wann könnte das sein? Vor dem 14. Februar?
Baerbock: Wir können nicht auf ein Kalenderdatum schauen, sondern wir müssen doch sagen, wann sind die Infektionszahlen niedrig genug, wie verhält es sich mit der Mutation und unter welchen Voraussetzungen sind Schulen so sicher, dass die Kinder wieder hingehen können? Kinder kommen in dieser Pandemie immer zu kurz und das darf nicht so weitergehen. Jedes fünfte Kind in Deutschland hat in den vergangenen Wochen keinen Zugang zu Bildung gehabt. Fakt ist, dass bei den Grundschülern manche das Abc vergessen haben, bei anderen ist komplett die Tagesstruktur weggebrochen. Wir haben eine Bundesbildungsministerin, die in den letzten Monaten überhaupt nicht aufgetaucht ist. Die Hauptverantwortung für die deutsche Politik trägt die derzeitige Bundesregierung. Bildungsföderalismus bedeutet nicht, als Bildungsministerin zu sagen, da sind die Länder zuständig. Manche Länder verweisen dann auf die Kreise – und am Ende bleibt es an den Lehrern hängen.
Es wird derzeit über „Corona-Stipendien“ diskutiert, um betroffenen Schülern zu helfen. Was halten Sie davon?
Baerbock: Das kommt darauf an, was damit gemeint ist. Was wir brauchen, sind Corona-Patenschaften. Kinder müssen ein Recht darauf haben, dass sie individuell unterstützt werden, wenn sie über den Distanzunterricht nicht erreicht werden. Wir haben sehr viele Lehramtsstudenten, die wir in ähnlicher Weise einsetzen können, wie wir es im Frühjahr mit Medizinstudenten im Gesundheitswesen gemacht haben. Die Lehramtsstudenten sollten im nächsten halben Jahr und am besten auch im Halbjahr danach Kindern zur Seite gestellt werden, die seit einem dreiviertel Jahr kaum wirklich unterrichtet wurden. Der Bund muss dafür einen richtig großen Finanztopf zur Verfügung stellen. Es geht um eine Eins-zu-eins-Unterstützung dieser Kinder. Und wir brauchen endlich eine angemessene Bildungspolitik für das 21. Jahrhundert. Die Schulen müssten eigentlich die schönsten Orte in einer Gemeinde sein und nicht ausgerechnet die Orte, wo das WLAN und das Warmwasser nicht funktioniert.
Zu Ihrer Partei: Die Kanzlerkandidatenfrage ist knifflig bei den Grünen, weil Sie mit Herrn Robert Habeck ein sehr harmonisches Duo bilden. Wer tritt denn nun als Spitzenkandidat an?
Baerbock: Wir haben auf den letzten beiden Parteitagen einen klaren Auftrag bekommen, die Grünen als Spitzenteam in den Wahlkampf zu führen. Und dann werden wir mit Blick auf die Kanzlerkandidatur zwischen April und Pfingsten auch einen Personalvorschlag machen.
Robert Habeck gilt als Prototyp des modernen Mannes, bleibt ihm da gar nichts anderes übrig als zurückzustecken und Sie vorzulassen?
Baerbock: Nein. Wir werden gemeinsam für die Partei einen Vorschlag machen, wer in dieser Situation der oder die Beste für diese Zeit, das beste Angebot für diese Partei, diesen Wahlkampf und für die Gesellschaft ist. Das machen wir als Team so, wie wir das in den letzten drei Jahren auch bei anderen Fragen immer wieder gemacht haben.
Spielt das Geschlecht noch eine große Rolle, wenn es ums Kanzleramt geht?
Baerbock: Zum Glück zeigt eine Frau schon seit 16 Jahren, dass eine Frau Kanzlerin sein kann. Diese Frage wird jetzt umgemünzt, ob das eine Mutter kann. Da sollte man vielleicht einen Blick ins Ausland werfen. Wenn’s in Neuseeland bei der Premierministerin mit kleinen Kindern funktionieren kann oder bei dem kanadischen Premierminister, dann sollte das auch in Deutschland funktionieren können. Aber noch mal: Wir werden als Grüne für uns entscheiden, wer auf den letzten Metern von vorne zieht.
Sie selbst haben einmal im Spiegel gesagt, sie hätten Sorge, über die politische Belastung das Leben ihrer kleinen Kinder zu verpassen.
Baerbock: Ich denke, diese Sorgen kennen heute so gut wie alle Mütter, aber auch Väter in unserem Land. Es ist jeden Tag ein Spagat, Familie und Beruf zu vereinbaren. Man denkt immer wieder, meine Güte, kommen jetzt an dieser Stelle meine Kinder zu kurz? Die Entscheidung, dennoch Spitzenpolitik zu machen, habe ich für mich getroffen, als ich Vorsitzende unserer Partei geworden bin. Ich habe aber damals schon klargemacht, dass ich als Spitzenpolitikerin nicht aufhöre, Mutter zu sein. Das gilt aber genauso, wenn man Vorstandsvorsitzende oder Krankenschwester im Schichtdienst ist. Für mich gilt: Frauen und Mütter müssen in diesem Land jeden Job machen können.
Sie haben sich nach der Festnahme des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny für gegen die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 ausgesprochen. Müssten wir nicht gezielter Sanktionen gegen Russland treffen?
Baerbock: Wir haben ja gegen Russland bestehende Sanktionen, ausgesprochen nach der Besetzung der Krim und nach dem rechtswidrigen Einmarsch in der Ostukraine. Aber wenn man sieht, um welche Geldbeträge es sich dabei beispielsweise bei eingefrorenen Konten handelt, geht es aus Sicht dieser Leute um nicht viel mehr als ein Taschengeld. Aber die Sanktionen werden durch die Bundesregierung konterkariert, weil sie auf Teufel komm raus an Nordstream 2 festhält. Wir können nicht auf der einen Seite Sanktionen gegen Russland verhängen und gleichzeitig eine Gaspipeline bauen, die für Russland ein so wichtiges Prestigeprojekt ist. Deswegen fordern wir nicht nur ein Moratorium, sondern das Ende für Nord Stream 2. Ein Moratorium würde ja bedeuten, dass man die Entscheidung wieder zurücknehmen könnte. Diese Pipeline ist gegen die Ukraine gerichtet, die von der Gaszufuhr abgeschnitten zu werden droht. Sie ist klimapolitisch und geostrategisch falsch.
Manuela Schwesig treibt als SPD-Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern das Projekt weiter kräftig voran …
Baerbock: Das Drama bei allen bisherigen Reaktionen der Bundesregierung gegenüber Russland ist: Wenn aus einer harten Wortwahl keine Konsequenzen folgen, macht sich auch niemand Sorgen bei harten Worten. Es verwundert mich, dass eine Ministerpräsidentin aus Mecklenburg-Vorpommern deutsche Außenpolitik betreibt. Das ist Aufgabe der Bundeskanzlerin und auch des Bundesaußenministers.
Zur Person: Annalena Baerbock, 40, studierte Politikwissenschaft und Recht in Hamburg sowie Völkerrecht in London. Seit 2018 steht sie an der Spitze der Grünen. Sie lebt mit ihrer Familie in Potsdam.
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