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Interview: Gerd Müller: „Ich bin der einzige Minister, der in Moria war“

Interview

Gerd Müller: „Ich bin der einzige Minister, der in Moria war“

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    Auch nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik will sich der schwäbische Politiker Gerd Müller „in irgendeiner Form“ weiter mit Afrika beschäftigen. Der Kontinent hat ihn in den Bann geschlagen.
    Auch nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik will sich der schwäbische Politiker Gerd Müller „in irgendeiner Form“ weiter mit Afrika beschäftigen. Der Kontinent hat ihn in den Bann geschlagen. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Herr Müller, Sie haben gerade eben erst angekündigt, dass Sie sich nach dem Ende dieser Legislaturperiode aus der Politik zurückziehen wollen. Empfinden Sie nun eher Wehmut oder Befreiung?

    Gerd Müller: Alles hat seine Zeit. Acht Jahre Entwicklungsminister, acht Jahre Landwirtschaftsstaatssekretär, dazu 32 Jahre Bundestags- und Europaabgeordneter. Das erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Das sind unglaubliche Erfahrungen, die ich machen durfte. So kann ich jetzt selbstbestimmt sagen, dass es Ende nächsten Jahres Zeit ist für einen Generationswechsel. Ich bin ja froh, dass ich die zum Teil extremen Belastungen gesundheitlich so gut durchgestanden habe. Bei meinen Besuchen in den Flüchtlingslagern vom Südsudan bis Moria hatte ich lediglich einen heftigen Durchfall und Magengrimmen.

    Die CSU-Landtagsfraktion hat bei ihrer Herbstklausur einstimmig beschlossen, das geplante Lieferkettengesetz sei „zu unterlassen“. Das heißt, ein wesentlicher Teil der CSU stellt sich frontal gegen das zentrale Projekt ihres eigenen Bundesministers, das noch dazu im Koalitionsvertrag steht. Wie tief sitzt der Frust über Ihre Partei?

    Müller: Unsere Partei ist für ein Lieferkettengesetz. Gerade hat sich CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt im Bundestag eindeutig positioniert. In der Landtagsfraktion stelle ich sehr gern vor, was das Gesetz genau beinhaltet. Momentan werden ja viele Schreckensbilder verbreitet.

    Gibt es einen Zusammenhang zu dem Klausurbeschluss und Ihrem Rückzug?

    Müller: Nein, überhaupt nicht. Die Entscheidung habe ich schon länger getroffen und meine Parteifreunde in der Heimat als Erstes informiert. Einen Zusammenhang zu einem politischen Vorgang gibt es nicht.

    Die SPD nannte Ihren Schritt „angesichts der Politik der CSU“ konsequent…

    Müller: Ich verdanke meiner Partei ein tolles, spannendes und erfüllendes Amt, das mir viele Möglichkeiten eröffnet. Ich versuche dabei, einen breiten Konsens zu bilden. Parteiübergreifend gibt es natürlich unterschiedliche Prioritäten bei Union, SPD und Grünen. Aber im Prinzip sind alle sich einig, dass es der richtige Weg ist, in der Welt mehr Verantwortung zu übernehmen. Und so wurde mit Unterstützung aller der Entwicklungshaushalt seit 2015 verdoppelt.

    Wie ist es um das C in CSU Ihrer Ansicht nach heute bestellt?

    Müller: Die CSU hat in der Entwicklungspolitik ja eine lange Tradition. Als Christ in der Politik habe ich ein klares Wertefundament: Der Starke hilft dem Schwachen. Eine neue Verantwortungsethik, Nachhaltigkeit und global gültige Standards zum Schutz von Mensch und Natur müssen das Prinzip all unseres Tuns sein. Wir haben das Glückslos gezogen, dass wir in Deutschland und Europa leben. Es sollte uns aber bewusst sein, dass unser Wohlstand auch ein großes Stück auf der Ausbeutung von Mensch und Natur in den Entwicklungsländern aufbaut. Wir müssen Globalisierung gerecht gestalten. Es kann doch nicht sein, dass unsere Kleidung von Frauen genäht wird, die einen Hungerlohn von 20 Cent in der Stunde verdienen. 75 Millionen Kinder arbeiten weltweit in globalen Lieferketten, etwa auf Kaffeeplantagen, in Steinbrüchen und Goldminen. Das ist inakzeptabel und deswegen arbeite ich an einem Lieferkettengesetz. Das sind alles Grundsätze christlich-sozialer Politik.

    Fühlen Sie sich als Katholik manchmal an den Propheten Jesaja erinnert, der die Menschen jahrzehntelang erfolglos zur Umkehr mahnte?

    Müller: (lacht) Ja, das trifft schon zu. Aber viele konnten nicht die Erfahrungen machen, die ich machen durfte. Ich war in 44 afrikanischen Ländern, in Lateinamerika und Asien. Ich habe Leid und Not, Himmel und Hölle auf Erden gesehen, aber auch die Lösungen. Resignation ist nicht angebracht. Wir können zum Beispiel eine Welt ohne Hunger schaffen.

    Wie?

    Müller: Der Planet ist imstande, zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Keiner müsste hungern. Wir haben die Technologie und das Wissen dazu. Finanziell wäre das zu stemmen, mit Investitionen von weltweit 15 Milliarden Euro pro Jahr bis 2030, so die Experten. Ich habe 15 Grüne Agrarzentren in Afrika gegründet, um beispielhaft zu zeigen, wie es geht. In Burkina Faso haben wir eine Reissorte aus Asien und neue Produktionsmethoden eingesetzt und innerhalb von drei Jahren den Ertrag verdreifacht.

    Entwicklungsminister Gerd Müller: "Hunger ist Mord"

    Warum geschieht dann nicht mehr?

    Müller: Es fehlt weltweit der politische Wille. Und deshalb sage ich: Hunger ist Mord, da wir dies heute ändern könnten. Schauen Sie, allein für Rüstung werden weltweit jedes Jahr 1700 Milliarden Euro ausgegeben. Für Entwicklung nur 170 Milliarden. Dies ist ein inakzeptables Missverhältnis.

    Wäre Markus Söder ein guter Kanzler für die Sache der Entwicklungspolitik, den Klimaschutz und eine menschliche Migrationspolitik?

    Müller: Bayern stellt seine Ministerien klimaneutral und hat auch ein eigenes Afrika-Konzept entwickelt. Dieser Rückenwind von Markus Söder freut mich sehr. Er setzt hier neue wichtige Schwerpunkte in der CSU und verdeutlicht, wir stehen für den Erhalt der Schöpfung und soziale Gerechtigkeit – und das weltweit.

    Geschieht da im Moment genug?

    Müller: Im Augenblick ist alles auf Corona konzentriert, verständlicherweise. Die CSU muss aber auch für ein grundsätzliches Profil in Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes stehen und aus christlicher Verantwortung für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen im In- und Ausland.

    Zuletzt hatten Sie eine deutlich andere Position als Ihr Parteifreund Horst Seehofer. Sie haben gefordert, Deutschland müsse 2000 Migranten aus dem abgebrannten griechischen Flüchtlingslager Moria aufnehmen. Deutschland solle mit einem entsprechenden „Zeichen der Humanität“ vorangehen. Innenminister Seehofer bremste. Sind Sie mit der Lösung, rund 1500 Flüchtlinge aus griechischen Lagern aufzunehmen, zufrieden?

    Müller: In solchen Momenten muss man sagen, wofür man steht. Warum habe ich das gefordert? Ich bin der einzige Minister, der in Moria war, schon vor zwei Jahren. Ich habe die unsäglichen Zustände dort gesehen und meine Erkenntnisse nach Brüssel weitergegeben. 15.000 Menschen lebten dort eingepfercht in einem Flüchtlingsgefängnis, das für 3000 geplant war. Mit Zuständen, wie ich sie in keinem afrikanischen Lager je gesehen habe. Ich sprach mit auf der Flucht vergewaltigten afrikanischen Frauen, die in einer Ecke lagen und auf die Geburt ihrer Kinder warteten. Ohne Hygiene oder ärztliche Versorgung. Die Katastrophe war absehbar. Doch passiert ist nichts. Die Menschen in Moria kommen ja nicht ohne Grund. Nur wenn sich ihre Perspektiven in der Heimat verbessern, werden Flüchtlinge den gefährlichen Weg nach Europa nicht mehr auf sich nehmen. Hier muss viel mehr passieren.

    Gibt es eine Begebenheit, die Sie auf Ihren Reisen erlebt haben, die Sie besonders wütend gemacht hat?

    Müller: Im Tschad haben wir ein Krankenhaus in einem Slum besucht: abgemagerte Kleinkinder, deren Mütter sie nicht stillen konnten, weil sie selbst unterernährt waren. Die Regierung hat seit Jahren keine Mittel gegeben. Und drei Kilometer weiter saß der Präsident in seinem Palast aus Gold und Marmor. Er kannte das Krankenhaus nicht und sagte, wenn man krank ist, dann fliegt man in die USA. Vollkommene Ignoranz. Er wollte öffentliche Entwicklungszusammenarbeit von uns. Ich habe ihm gesagt, das kann er vergessen. Stattdessen unterstützen wir das Krankenhaus direkt. Da war der Präsident stinksauer und hat sich bei der Bundeskanzlerin über mich beschwert.

    "Manches geht schon sehr an die Nieren"

    Das klingt so, als wären Sie manchmal der Verzweiflung sehr nahe.

    Müller: Manches geht schon sehr an die Nieren. In einem Flüchtlingslager in Bangladesch, in dem rund eine Million aus Myanmar vertriebene Angehörige der Rohingya-Minderheit leben, habe ich in einer Hütte mit vertriebenen Frauen gesprochen. Sie haben unter Tränen berichtet, wie Regierungstruppen ihre Dörfer überfallen, sie vergewaltigt und ihre Hütten angezündet haben. Dann nahmen die Soldaten die Babys und warfen sie in die brennenden Hütten. Man kann kaum glauben, zu welchen Verbrechen Menschen in der Lage sind. Die Frauen sind so unendlich dankbar, dass Deutschland ihnen jetzt vor Ort hilft. Und solche dramatischen Erlebnisse bestärken mich persönlich, zu Hause für mehr Unterstützung zu kämpfen.

    Sind solche Erlebnisse Grundlage für Ihre Reform der Entwicklungspolitik?

    Müller: Ja, auch. Mit der Reform wollen wir mehr Wirksamkeit erzielen und die Zusammenarbeit an messbare Fortschritte im Kampf gegen die Korruption und bei der Einhaltung der Menschenrechte koppeln.

    Wie sehr wirft die Corona-Pandemie die Entwicklung zurück?

    Müller: Weltweit wird die Pandemie 100 Millionen Menschen in die absolute Armut zurückwerfen. Das ist ein herber Rückschlag, nachdem wir Armut seit Jahrzehnten zurückdrängen konnten. In den Entwicklungsländern sterben mehr an den Folgen des Lockdowns als am Virus selbst. Experten rechnen, dass es allein in Afrika zusätzlich eine Million an HIV, Malaria, Tuberkulose sterben, weil keine Medikamente ins Land kommen. Dazu kommt Hunger, weil Lieferketten ausgefallen sind, Arbeitsplätze wegbrechen und Geschäfte kaputtgehen.

    War der Lockdown in diesen Ländern dann falsch?

    Müller: Nein, dazu gab es am Anfang keine Alternative. Aber aus heutiger Sicht würde man vielleicht manches anders machen. Wir müssen jetzt auch dafür sorgen, dass die Ärmsten der Armen auch Zugang zu Impfstoffen bekommen. Die Reichen sichern sich gerade die Impfdosen, die Armen schauen in die Röhre. Das darf nicht sein. Es ist gut, dass die Kanzlerin Mittel für entsprechende Programme zugesagt hat.

    Genügt das?

    Müller: Deutschland hat als einziges Land ein Zeichen der Solidarität gesetzt und ein Corona-Sofortprogramm mit drei Milliarden Euro umgesetzt. Andere müssen folgen, insbesondere Brüssel. Aber die EU verdrängt die humanitären Katastrophen, die sich direkt vor unserer Haustür aufbauen. Wir besiegen die Pandemie nur weltweit oder nicht. Es ist fatal, dass die EU die Mittel für Entwicklung im Haushalt aktuell kürzt. Diese Entscheidung muss zurückgenommen werden. Die Folgen wären sonst dramatisch: Hunger, Armut und Not. Die EU muss sich viel stärker in unserer Nachbarschaft engagieren. Ich denke an die zehn Millionen Flüchtlinge im Krisenbogen um Syrien, im Libanon. Mit deutscher Hilfe können dort derzeit Millionen Menschen überleben. Wenn man bedenkt, dass vor Ort mit 50 Cent am Tag das Überleben gesichert wird, ist es schäbig, dass UN-Hilfsorganisationen derzeit fünf Milliarden fehlen.

    Was droht, wenn das nicht passiert?

    Müller: Ich warne vor einer Situation wie 2015. Das Welternährungsprogramm musste im Jemen bereits die täglichen Hilfsrationen kürzen. 13 Millionen Flüchtlinge versorgt es dort, fast die Hälfte der Menschen ist mangelernährt. In der Sahel-Region kommt es schon verstärkt zu Unruhen. Terrorgruppen wie Boko Haram nutzen die fragile Situation, um Regierungen zu destabilisieren. Es kann zu Bürgerkrieg, Terror und unkontrollierten Fluchtbewegungen kommen. An dieser Stelle zeigt sich, ob Brüssel handlungsfähig ist oder nicht. Der Migrationspakt, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen hat, muss neben der Begrenzung illegaler Zuwanderung auch die Überwindung von Fluchtursachen zum Schwerpunkt machen. Dieser zweite Pfeiler fehlt aber bislang komplett.

    Angesichts der Bevölkerungsexplosion scheint Entwicklungshilfe oft wie ein Kampf gegen Windmühlen. Finden Sie, auch als Katholik, dass dieser Aspekt genügend berücksichtigt wird?

    Müller: Die Herausforderungen sind gewaltig, aber lösbar. Jede Woche wächst die Weltbevölkerung um die Größe Münchens. Im Jahr ist das einmal die Größe Deutschlands. Ich habe das Thema Familienplanung in Afrika ein Stück weit enttabuisiert. Jedem Regierungschef sage ich: Die Entwicklung seines Landes hängt entscheidend von der Gleichberechtigung der Frauen und dem Zugang zu Bildung ab. Die Corona-Krise hat die Gleichberechtigung aber weit zurückgeworfen. Dafür zahlen die Frauen, nicht nur in Afrika, einen bitteren Preis. All diese Erlebnisse bewegen mich sehr. Meine Überzeugung ist aber, dass wir umsetzbare Lösungskonzepte haben. Das ist auch Schwerpunkt meines neuen Buchs „Umdenken“, wo ich diese aufzeige.

    Was sind Ihre Pläne für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Amt?

    Müller: Ich habe vor, den einen oder anderen Berg im Allgäu zu besteigen. Auch Afrika wird mich in irgendeiner Form weiter beschäftigen. Ich bin nach wie vor voller Tatendrang. Wenn man loslässt, kommt etwas Neues.

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