Herr Müller, wie sehr bedroht das Coronavirus die Menschen in Krisen- und Entwicklungsländern?
Gerd Müller: Die Lage ist dramatisch, denn mit einer Verzögerung von zwei Monaten kommt das Virus jetzt in den Entwicklungs- und Schwellenländern an. Dort gibt es nur schwache Gesundheitsstrukturen. Im afrikanischen Staat Mali mit seinen 18 Millionen Menschen gibt es gerade mal vier Beatmungsgeräte. Und die wirtschaftlichen Folgen des weltweiten Corona-Schocks führen jetzt schon in vielen Ländern zur Massenarbeitslosigkeit. Die Strukturen brechen zusammen. Ich habe große Sorgen, dass es in fragilen Staaten zum Ausbruch von Unruhen kommt, auch zu Bürgerkriegen. Die Auswirkungen auch auf uns wären völlig unabsehbar.
In welchen Regionen sehen Sie die größten Gefahren?
Müller: Das Virus ist jetzt in 47 der 54 afrikanischen Länder angekommen. Es gibt auf dem afrikanischen Kontinent im Vergleich zu Deutschland und Europa, bis auf wenige Ausnahmen, nahezu keine intensivmedizinischen Einrichtungen. Besondere Sorgen macht mir auch der Krisenbogen Syrien mit seinen Flüchtlingscamps. Ich mag mir nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn dieses Virus dort um sich greift. Dort ist nahezu keine medizinische Hilfe für die Menschen möglich. Im Libanon steht beispielsweise der Staatsbankrott kurz bevor, doch in diesem kleinen Land leben 1,5 Millionen Flüchtlinge. Wohin sollen diese Menschen sich wenden, wenn nicht wir ihnen vor Ort helfen?
Wo liegen die besonderen Herausforderungen bei der Eindämmung von Corona in diesen Ländern?
Müller: Alles, was bei uns passiert, um die Gesundheits- und Wirtschaftssysteme zu stabilisieren, müsste natürlich dort auch passieren. Aber die Möglichkeiten der Weltgemeinschaft dafür sind beschränkt. Deswegen müssen wird die Instrumente so wirksam wie möglich einsetzen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versucht etwa, die Gesundheitssysteme in den armen Ländern systematisch zu stärken, wir als Entwicklungsministerium konzentrieren unsere Programme ebenso gezielt darauf. Doch es geht jetzt auch darum, staatliche Strukturen insgesamt zu erhalten. Ansonsten brechen nicht nur Krankenhäuser, sondern die gesamte öffentliche Ordnung und ganze Staaten zusammen. Millionen Menschen haben in Entwicklungsländern schon ihre Arbeit verloren, verfügen über keinerlei Absicherung und Einkommen. Es kommt bereits zu Unruhen. Terroristische Gruppen verüben verstärkt Anschläge, mit dem Ziel, Regierungen zu stürzen. Das Ziel ist, Regierungen zu stürzen. Chaos bis hin zum Bürgerkrieg und Flüchtlingswellen wären die Folge. Dies alles betrifft auch uns. Deswegen müssen wir alles unternehmen, um den Zusammenbruch der Staatlichkeit zu verhindern.
Welche Hilfe ist bisher erfolgt?
Müller: Dafür hat die Weltgemeinschaft über den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank Instrumente, diese Staaten zu stabilisieren. In einem ersten Schritt wurde bereits ein Kreditvolumen von 200 Milliarden Euro in Aussicht gestellt.
Ist das genug? Ist in der internationalen Gemeinschaft die Bereitschaft zur Solidarität überhaupt noch da, oder sind alle Länder im Corona-Ausnahmezustand mit sich selbst beschäftigt?
Müller: Jetzt ist die Stunde der Vereinten Nationen und der Europäischen Union. Sie müssen alle verfügbaren internationalen Instrumente jetzt wirksam koordinieren. Ich bezweifle allerdings, dass diese Summe am Ende ausreicht, um all die Krisenländer zu stabilisieren. Deswegen darf auch die EU ihren angekündigten Marshallplan nicht nur nach innen richten. Wir alle müssen endlich verstehen, dass wir in einem globalen Dorf leben. Ausgangspunkt der Corona-Pandemie ist ein Tiermarkt in China. Das Virus ist dort von einem Marderhund, der Fledermäuse frisst, auf den Menschen übergesprungen. Und von dort hat es sich über die ganze Welt verbreitet. Das ist die Kehrseite der Globalisierung. Bei offenen Warenmärkten, sieben Millionen Menschen, die zu normalen Zeiten täglich im Flugzeug sitzen – da muss uns klar sein: Diese Weltkrise lösen wir nur zusammen.
Welche langfristigen Maßnahmen könnten helfen, das Risiko solcher Pandemien zu mindern?
Müller: Wir müssen bei Globalisierung umdenken. Wir brauchen eine neue Form der internationalen Solidarität. Jetzt geht es erst einmal darum, diese Weltkrise durch gegenseitige Unterstützung beherrschbar zu machen. Ich mag mir nicht vorstellen, was geschieht, wenn in Nordafrika oder im Nahen Osten Staaten unter dem Druck der Krisenfolgen zusammenbrechen, das könnte unglaubliche Flüchtlingsströme auslösen. Aber klar ist, wir müssen das weltweite Zusammenwirken von Human- und Tiermedizin besser erforschen und verstehen. Denn zwei Drittel aller beim Menschen neu auftretenden Infektionskrankheiten stammen ursprünglich von Nutz- oder Wildtieren. Deswegen bauen wir eine neue Arbeitseinheit „One Health“ zur Pandemie-bekämpfung auf.
Viele afrikanische Staaten haben leidvolle Erfahrungen mit Ausbrüchen von Seuchen gemacht. Gibt es auch Dinge, die wir von diesen Ländern lernen können?
Müller: Afrikanischen Epidemiologen ist es gelungen, das tückische Ebolavirus zumindest vorläufig zu besiegen. Viele Staaten haben auch Pandemiepläne entwickelt und jetzt auf die Corona-Bedrohung schnell reagiert, etwa mit Einreiseverboten oder der schnellen Isolation von Infizierten. Viele Staaten haben deshalb auch frühzeitig Ausgangssperren verhängt. Das sind Erfahrungen aus der Ebolakrise, die für die ganze Welt wertvoll sind.
Der Corona-Ausbruch hat auch die globalen Lieferketten jäh unterbrochen. Was bedeutet das etwa für eine Näherin in Bangladesch?
Müller: Der Stopp der Textilhandelsketten sorgt allein in Bangladesch dafür, dass bis zu drei Millionen Menschen auf der Straße stehen, ohne Kurzarbeitergeld, ohne einen Dollar Tageseinkommen. Die Krise zeigt uns erneut, dass wir für faire Bedingungen im Welthandel sorgen müssen. Künftig wird es zudem noch mehr darum gehen, dass die Handelsstrukturen auch Gesundheits- und Hygienestandards berücksichtigen.
Welche Möglichkeiten haben Privatpersonen, um die Menschen in den armen Ländern zu unterstützen?
Müller: Gerade jetzt brauchen die kirchlichen Hilfsorganisationen, mit denen wir weltweit sehr gut zusammenarbeiten, Unterstützung für ihre unendlich wichtige Arbeit. Doch es besteht zum Beispiel die Gefahr, dass die Fastenkollekten wegbrechen, weil die Ostergottesdienste gar nicht stattfinden können. Auch wenn die Corona-Krise unsere Aufmerksamkeit hier bei uns bindet, kann jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten an Hilfsorganisationen spenden, nicht nur an die kirchlichen. Deren Arbeit insbesondere in den Flüchtlingsgebieten und bei den Ärmsten ist jetzt wertvoller denn je. Die Mitarbeiter der Hilfswerke setzen sich, oft ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit, für die Menschen ein, die besonders leiden.
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