Herr Brok, Sie waren immer wieder im Libanon, kennen die wichtigsten politischen Akteure persönlich. Ist es für Sie bezeichnend, dass eine Explosion mit über 220 Todesopfern das Krisenland wieder auf die weltpolitische Tagesordnung katapultierte?
Elmar Brok: Es ist ja oft so, dass latente Probleme kaum registriert werden. Es sind Schockereignisse, die weltweit wahrgenommen werden. Oft aber nur für ein paar Tage. Dann verschwindet das Thema schon wieder. Was oft dazu führt, dass keine nachhaltige Politik betrieben wird.
Wird das auch diesmal wieder im Libanon so geschehen?
Brok: Das könnte sein. Es ist ja noch nicht ganz klar, wer hinter den Demonstrationen steht. Entscheidend könnte sein, ob man versucht, das spezielle Gleichgewicht zwischen Christen, Sunniten und Schiiten aus den Angeln zu heben. Eine Staatsstruktur, die immerhin dazu geführt hat, dass im Libanon die Christen noch eine Rolle spielen und überleben können – im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Denken Sie an Syrien oder den Irak. Dort ist die Schutzfunktion für die Christen weggefallen.
Sie meinen das Proporzsystem: Der Staatspräsident ist immer ein Christ, die Sunniten stellen den Regierungschef und die Schiiten den Parlamentspräsidenten. Ist diese Struktur nicht mitverantwortlich für die Lähmung des Libanon?
Brok: Ich glaube, dass dieses System jetzt etwas undifferenziert attackiert wird. Das eigentliche Problem ist nicht diese Struktur, die ja früher dazu beigetragen hat, dass der Libanon lange als „Schweiz des Orients“ bezeichnet wurde und ein sehr reiches Land war. Das Hauptproblem ist, dass die schiitische Miliz Hisbollah nach dem libanesischen Bürgerkrieg 1975 bis 1990 als einzige Bürgerkriegspartei ihre Waffen nicht abgegeben hat.
Wie nutzt die Hisbollah diese Position?
Brok: Sie ist ein Staat im Staate, gegen sie läuft nichts. Der Hafen, in dem die Explosion geschah, steht auch unter der Kontrolle der Hisbollah. Die Milizen sind militärisch sehr schlagkräftig, sie hatten schließlich großen Anteil daran, dass das Regime von Baschar al-Assad in Syrien gerettet wurde.
Könnte in dieser Katastrophe nicht auch eine Chance dafür liegen, dass das von Machtspielen der Eliten und einer wuchernden Korruption geprägte Land einen Weg aus dem Chaos findet?
Brok: Unmöglich ist das nicht. Doch es gibt zwei Bedingungen: Die Hisbollah muss ihre Waffen abgeben. Das Zweite ist: Die Einwirkung der Regionalmächte auf den Libanon muss beendet werden. Dort findet ein Stellvertreterkonflikt wie in Syrien und im Irak statt.
Wer steuert wen?
Brok: Eine der beiden christlichen Parteien wird von Saudi-Arabien gesteuert, die christliche Partei des Präsidenten Aoun ist – wie die Schiiten auch – abhängig vom Iran und von der Hisbollah, während die Vertreter der Sunniten ebenfalls auf Saudi-Arabien hören. Das heißt, der Kampf Teheran gegen Riad findet im Libanon wie in einer Nussschale statt.
Was kann geschehen, damit die Libanesen diesem Teufelskreis entkommen?
Brok: Das geht nur, wenn die verschiedenen Gruppen zusammenfinden und sagen, es geht so nicht weiter. Aber das bedeutet auch eine Loslösung von dem Einfluss von außen. Nur dann kann der Staat als Ganzes wieder Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.
Wer soll diesen Prozess vorantreiben, wenn die Libanesen doch ganz offensichtlich jedes Vertrauen in ihre Politiker verloren haben?
Brok: Reformen und der Kampf gegen die Korruption werden den Politikern nicht zugetraut. Auf der anderen Seite: Wer sind die jungen Leute, die sich einigen könnten? Vor allem aber: Wo hat welche Gruppe überhaupt Handlungsspielraum?
Wären Neuwahlen ein Signal für einen Neuanfang?
Brok: Wenn es nach der alten Verfassung geht, dürften Neuwahlen nicht viel verändern. Es sei denn, in den jeweiligen Lagern würden sich neue Parteien gründen. Die Frage ist aber, ob im schiitischen Bereich überhaupt Parteigründungen durchsetzbar wären.
Könnte Vermittlung von außen helfen?
Brok: Wir brauchen internationale Vermittlung. Denn zur Lösung der Probleme muss man das Gesamtszenario im Nahen Osten sehen. Gerade weil die großen Konflikte sich im kleinen Libanon spiegeln.
Der französische Präsident Emmanuel Macron scheint sich anzuschicken, eine Vermittlerrolle einzunehmen...
Brok: Vielleicht könnten die Franzosen das am ehesten hinkriegen. Sie haben ein historisches Interesse an der Region und als frühere Mandatsmacht enge Verbindungen zum Libanon.
Die chronische Wirtschaftskrise und die Korruption müssten doch aber im Inneren des Landes bekämpft werden?
Brok: Natürlich. Gleichzeitig müssen Sie aber einen Punkt sehen, der seltsamerweise in der Berichterstattung nur eine untergeordnete Rolle spielt: Der Libanon hatte gut vier Millionen Einwohner, hat aber seit 2014 mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen – mehr als die gesamte EU. Zusätzlich leben dort – je nach Schätzung – circa 600000 Palästinenser zum Teil in Flüchtlingslagern, von denen einige bereits Ende der 40er-Jahre entstanden sind. Stellen Sie sich vor, bei Ihnen in Augsburg würden 150000 Flüchtlinge leben. Das ist für den Libanon eine ungeheure Belastung. Da sollte man fair sein, anstatt nur mit großer Arroganz über die Zustände dort zu schimpfen.
Was bleibt als die Hoffnung, dass es eine Koalition aus Christen, Sunniten und Schiiten geben könnte, die die Situation nicht mehr ertragen können und sich darüber verständigen, dass alte Hürden überwunden werden müssen, um effektive Strukturen zu schaffen? Oder ist das nur ein Traum?
Brok: Ich träume mit Ihnen, aber mein Altersskeptizismus bremst mich etwas. Aber in der Tat: Das ist der Ansatz, den man erreichen müsste, der dazu führen könnte, dass im Libanon der Fatalismus aufhört – also das alles lähmende Gefühl, es ändert sich ja doch nichts.
Zur Person: Elmar Brok, 74, war von 1980 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments. Dort leitete der CDU-Politiker viele Jahre lang den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten.
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