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Interview: Boris Palmer: „Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind“

Interview

Boris Palmer: „Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind“

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    Boris Palmer ist Oberbürgermeister von Tübingen. In der Corona-Pandemie geht der Grüne lieber seinen eigenen Weg.
    Boris Palmer ist Oberbürgermeister von Tübingen. In der Corona-Pandemie geht der Grüne lieber seinen eigenen Weg. Foto: Marijan Murat, dpa

    Herr Palmer, dank des Tübinger Modells konnten Sie in Ihrer Stadt sechs Wochen lang die Corona-Regeln weitgehend lockern. Was haben Sie gelernt in dieser Zeit?

    Palmer: In Sachen Infektionsschutz haben wir gelernt, dass man durch intensives und flächendeckendes Testen die Inzidenz unter Kontrolle bringen kann. Mit Blick auf den Handel haben wir gelernt, dass die Umsätze groß genug sind, damit es sich für die Betriebe lohnt zu öffnen. Deshalb bin ich der Meinung, dass unser Modell ein echter Erfolg war. Aber es waren auch ganz praktische Dinge: Bei den Tests, die draußen gemacht werden, darf es zum Beispiel nicht zu kalt sein. Grundsätzlich hat Tübingen gezeigt, dass Öffnungen möglich sind, wenn man sie mit einem Testkonzept absichert.

    Dennoch sind auch in Tübingen die Inzidenzwerte gestiegen. Hätte es schärferer Regeln bedurft?

    Palmer: Nein, überhaupt nicht. Die Daten zeigen, dass wir durch unsere Öffnungen keine zusätzlichen Infektionen hatten. Natürlich hatten wir einen Anstieg beim Inzidenzwert. Aber er war viel schwächer als in den Landkreisen in Baden-Württemberg, in denen es einen Lockdown gab. Und die Zahlen in Tübingen sind zu Beginn gestiegen, weil wir mehr getestet haben: Wer mehr testet, findet auch mehr. Wenn ich aber weiß, dass sich das in Grenzen hält, muss ich doch eigentlich öffnen. Denn es geht um Grundrechte und das Überleben der Innenstädte.

    Boris Palmer: "Ich bin froh, dass wir diesen Versuch machen konnten"

    Welche Perspektive geben Sie den Tübingern jetzt, wo der Versuch beendet wurde? Wie ist die Stimmung?

    Palmer: Es ist schon eine große Trauer zu spüren. Wir hatten vorher echte Lebensfreude und Glück in fast jedem Gesicht in den ersten Tagen der Wiedereröffnung. Ich habe Geschäftsbetreiber getroffen, die hatten Freudentränen in den Augen. Dafür ist jetzt der Wechsel zum harten Lockdown für uns umso massiver. Trotzdem glaube ich, dass wir die Grundlage geschaffen haben, um nach dem Lockdown schnell wieder rauszukommen. Deshalb bin ich froh, dass wir diesen Versuch machen konnten.

    Glauben Sie an die Wirkung der Notbremse?

    Palmer: Ich habe meine Zweifel. Es mag sein, dass sie in Großstädten wirkt, weil sie da abends durch die Ausgangssperre einen echten Unterschied sehen. Ansonsten denke ich, dass nur Schul- und Kita-Schließungen wirklich etwas an den hohen Inzidenzen ändern. Der Rest der Notbremse war ja in Baden-Württemberg schon weitgehend Realität – und trotzdem haben wir steigende Zahlen gesehen. Die britische Mutation hat sich auch im Lockdown ausgebreitet. Deshalb bin ich mir nicht so sicher, ob uns die Notbremse wirklich viel hilft.

    Boris Palmer: "Die Lockdown-Strategie kommt an ihr Ende"

    Ein großer Anteil der Infektionen geschieht im Privaten. Hat die Politik den Draht zu den Menschen verloren nach mehr als einem Jahr Pandemie?

    Palmer: Ich glaube in der Tat, dass die Lockdown-Strategie an ihr Ende kommt, weil es Erschöpfungserscheinungen in der Gesellschaft gibt und die Leute irgendwann nicht mehr so gut mitziehen, wie es nötig wäre. Das dürfte auch einer der Gründe sein, warum die meisten Länder um uns herum wieder öffnen und darauf vertrauen, dass wir mit dem Impfen die Pandemie in den Griff bekommen. Deshalb fand ich unseren Versuch als Mittelweg auch so wichtig und kann nicht wirklich nachvollziehen, warum er gestoppt wurde. Ich denke, dass wir bald die durchs Testen abgesicherte Öffnung brauchen – Akzeptanz ist ganz wichtig in dieser Pandemie.

    Akzeptanz braucht man auch für die Corona-Tests. Mit dem Versprechen auf mehr Freiheit haben sich in Tübingen deutlich mehr Menschen testen lassen. Wie sieht das jetzt aus?

    Palmer: Man muss die Menschen eben nehmen, wie sie sind. Wenn ich weiß, dass mein Test mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1000 positiv ausfällt, lasse ich mich nur testen, wenn ich einen zusätzlichen Anreiz bekomme. Unsere Testpflicht in Kombination mit Angeboten, nach denen sich die Menschen sehnen, hat dazu geführt, dass wir die höchste Testdichte in ganz Deutschland hatten. Jetzt, wo die Angebote wegfallen, ist unsere Test-rate um den Faktor 10 eingebrochen – von 5000 auf 500 am Tag. Das ist deshalb schlimm, weil es dazu führen wird, dass wir Infektionen nicht mehr entdecken, die wir in den letzten Wochen immer gefunden haben. Damit werden wir durch die Notbremse mehr Ansteckungen haben als ohne – das ist ein ziemlich grotesker Effekt.

    Mit der Notbremse wurde Einheitlichkeit her-gestellt, die Menschen haben ein klares Regel-Handbuch. Ist das kein Wert?

    Palmer: Wenn man als Investor alles auf eine Karte setzt, macht man fast immer etwas falsch. Und wenn die Karte dann auch noch so viele Knicke hat wie die Lockdown-Strategie mit all ihren Defiziten und gesellschaftlichen Konflikten, dann ist das doppelt riskant. Ich bin von der Einheitlichkeit, die die Bundesnotbremse herstellt, alles andere als überzeugt.

    Boris Palmer: "Wir müssen jetzt versuchen, die Testrate wieder hochzubringen"

    Wie lange werden wir noch in diesem Zustand leben müssen?

    Palmer: Das Impfen ist tatsächlich der einzige Trost. Ab Mai werden wir den R-Wert positiv beeinflussen können, das zeigen die Daten aus Israel ganz deutlich, dass das Virus sich zurückdrängen lässt, sobald mehr Menschen geimpft sind. Inzwischen sind auch bei uns die Impfraten endlich hoch, deswegen bin ich sicher, dass im Mai Effekte zu sehen sein werden.

    Vieles in dieser Pandemie liegt nicht in Ihrer Hand. Fühlen Sie sich manchmal ohnmächtig?

    Palmer: Der Bundestag hat anders entschieden, als ich das für richtig gehalten hätte, aber Gesetz ist Gesetz. Das gehört zum Geschäft und ist für mich kein Grund für Ohnmacht. Wir müssen jetzt versuchen, die Testrate wieder hochzubringen. Man kann in einer Kommune eben nur innerhalb des zulässigen Handlungsrahmens eigene Wege gehen. Der ist jetzt bedauerlicherweise sehr stark beschnitten worden. Ich hoffe also, dass wir bald unter die Inzidenz von 100 kommen und wieder mehr Spielraum haben. Was mich mehr ärgert – und da habe ich mich tatsächlich manchmal ohnmächtig gefühlt –, ist die Weigerung der deutschen Politik, ernsthafte Anstrengungen zur digitalen Kontaktnachverfolgung zu unternehmen. Damit hätten wir nämlich die Pandemie schon längst unter Kontrolle gebracht. Und ich ärgere mich auch darüber, dass in Tübingen Millionen Dosen Impfstoff bereitliegen, mit der hier entwickelten RNA-Technologie, die auch Biontech und Moderna einsetzen.

    So öffnen andere Länder in der Corona-Pandemie

    Dänemark: Die Geschäfte haben längst wieder geöffnet, und die Straßen sind voller Menschen. Cafés, Restaurants und Bars dürfen seit einer Woche wieder Kunden bedienen - im Inneren allerdings nur, wenn die Gäste per App einen negativen Corona-Test, eine Impfung oder eine überstandene Infektion nachweisen können. Dabei fällt auf: Die dänischen Neuinfektionszahlen sind stabil niedrig geblieben, liegen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 100 seit Langem unverändert unter den deutschen Werten. Dänemark verzichtet als einziges EU-Land auf den Einsatz des Impfstoffs von AstraZeneca. Trotzdem sind knapp 22 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens einmal geimpft.

    Frankreich: Sofern es die Lage zulässt, sollen Anfang Mai die Bewegungseinschränkungen aufgehoben werden. Aktuell dürfen sich die Menschen nur mit triftigem Grund mehr als zehn Kilometer von ihrer Wohnung entfernen. Außerdem könnten Außenbereiche von Restaurants und bestimmte Kultureinrichtungen wieder öffnen. Auch über eine Lockerung der abendlichen Ausgangssperre, die aktuell um 19 Uhr beginnt, wird gesprochen. Die Corona-Lage ist allerdings weiter angespannt. Zuletzt gab es rund 300 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und sieben Tage. Rund ein Fünftel der Bevölkerung wurde mindestens einmal geimpft.

    Großbritannien: In Großbritannien hat sich die Corona-Lage dank eines langen, konsequenten Lockdowns und der weit fortgeschrittenen Impfkampagne mittlerweile deutlich entspannt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist bereits einmal geimpft, ein Viertel sogar vollständig. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei rund 25 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Pubs und Restaurants dürfen in England und Wales draußen wieder Gäste empfangen, in Schottland sogar bis abends auch drinnen. Geschäfte, Fitnessstudios, Friseure und Zoos sind weitgehend wieder geöffnet. Treffen in Innenräumen und Reisen ins Ausland bleiben allerdings noch bis mindestens Mitte Mai verboten.

    Italien: Italien befindet sich seit Kurzem auf einem schrittweisen Lockerungskurs. Wo die Corona-Zahlen moderat sind, dürfen Restaurants und Bars auch abends im Außenbereich an Tischen servieren. Ab 22 Uhr gilt das Ausgangsverbot. Museen und Kinos in den sogenannten Gelben Zonen haben bereits geöffnet. Ab 1. Juni soll man in Lokalen wieder drinnen sitzen dürfen. Italien peilt den 2. Juni für den Start der Sommersaison an. Das Reisen im Land ist noch teils eingeschränkt, aber mit Impfung oder negativem Corona-Test soll es bald leichter werden, selbst in höhere Risikozonen zu fahren. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei etwa 160. Über 22 Prozent der Bevölkerung sind mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft.

    Malta: Der Inselstaat will ab dem 1. Juni für den internationalen Tourismus öffnen. Schon ab dem 10. Mai dürfen Restaurants wieder Besucher willkommen heißen und bis 17 Uhr an Tischen bedienen. Das Besondere: Mehr als 40 Prozent der Gesamtbevölkerung haben bislang zumindest eine Impfung bekommen. Die Regierung will geimpfte Ausländer in Kürze mit einer Vorzugsbehandlung ins Land locken.

    Niederlande: Die Niederlande haben am Mittwoch trotz anhaltend hoher Corona-Zahlen die ersten Maßnahmen seit dem strengen Lockdown von Mitte Dezember gelockert. Die abendliche Ausgangssperre ist abgeschafft, Geschäfte dürfen wieder Kunden ohne Termin empfangen und Gaststätten im Außenbereich unter Auflagen wieder Gäste bedienen - zumindest von 12 bis 18 Uhr. Zu Hause darf man wieder zwei statt bisher einen Besucher am Tag treffen. Verboten bleiben alle Veranstaltungen mit Publikum wie etwa Museen, Kinos und Theater. Schüler und Studenten haben zumindest an einem Tag in der Woche Präsenzunterricht. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei 317. Rund 30 Prozent der Bevölkerung wurde mindestens einmal geimpft.

    Österreich: Ab 19. Mai dürfen Gastronomie, Hotels, Bühnen und Sporteinrichtungen wieder die Pforten öffnen. Dabei setzt die Regierung auf Zutrittstests als Schutzmaßnahme. Veranstaltungen sind draußen auf 3000 und drinnen auf 1500 Personen beschränkt. In und rund um Wien gilt derzeit ein noch strengerer Lockdown, weswegen die meisten Geschäfte bis Sonntag noch geschlossen sind. Die 7-Tage-Inzidenz sank landesweit zuletzt auf 168. Rund 28 Prozent der Einwohner ab 16 Jahren haben mindestens eine Impfdosis erhalten.

    Polen: Schrittweise Öffnungen sind geplant. Zuerst sollen etwa Einkaufszentren und Museen unter Hygieneauflagen wieder öffnen dürfen. Vom 8. Mai an dürfen Hotels Gäste bis zu einer Auslastung von 50 Prozent beherbergen. Die Außengastronomie soll ab dem 15. Mai starten. Ab dem 29. Mai soll der Restaurantbetrieb in Innenräumen mit halber Auslastung möglich sein. Das Gesundheitsministerium meldete am Mittwoch 8895 registrierte Neuinfektionen und 636 Todesfälle innerhalb von 24 Stunden, eine Sieben-Tage-Inzidenz wird in Polen nicht berechnet. Etwa 10,7 Millionen Menschen - also 28,2 Prozent der Bevölkerung - sind mindestens ein Mal geimpft.

    Schweiz: Bereits seit Anfang März haben Läden, Museen und Bibliotheken trotz steigender Infektionszahlen wieder geöffnet. Seit 19. April sind auch Restaurantterrassen, Kinos, Theater und Fitnesszentren wieder in Betrieb. Auch Open-Air-Konzerte und Fußballspiele dürfen wieder stattfinden. Dabei gelten Hygieneregeln wie etwa eine Begrenzung der Anzahl von Anwesenden oder die Maskenpflicht. Seit Ostern - vier Wochen nach der Öffnung von Läden und Museen - ist der Anstieg allerdings nur noch sehr gering. Anders als in anderen Ländern wird in der Schweiz eine 14-Tage-Inzidenz berechnet. Laut Bundesamt für Gesundheit lag sie am Mittwoch bei 315 Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner. Nach jüngsten Zahlen war knapp zehn Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.

    Slowakei: Vor eineinhalb Wochen haben die Geschäfte unter Einhaltung strenger Hygiene- und Abstandsregeln wieder geöffnet. Gastronomiebetriebe dürfen seit Montag wieder in ihren Außenbereichen Speisen und Getränke servieren. Bei professionellen Sportveranstaltungen sind seit Dienstag auch wieder Zuschauer erlaubt. Die Zahl der Neuansteckungen ist rückläufig und gemessen an der Einwohnerzahl inzwischen auch deutlich unter den Zahlen für Deutschland. Bis Mittwoch wurden nach offiziellen Angaben rund 20 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft.

    Spanien: Die Lage in Spanien ist relativ stabil, die Sieben-Tage-Inzidenz lag am Mittwoch bei 108. Bisher hat 23 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfung erhalten. Am 9. Mai endet der Corona-Notstand und soll wegen der guten Entwicklung nicht verlängert werden. Damit entfällt die Grundlage für die meisten Maßnahmen wie Reisebeschränkungen, nächtliche Ausgangssperren, Obergrenzen bei Versammlungen und Schließung von Gaststätten. Wie es danach weitergehen soll, ist noch nicht klar. Alle Hoffnungen des extrem vom Tourismus abhängigen Landes für eine wieder normale Sommersaison richten sich auf den digitalen Impfpass.

    Wieso werden die nicht genutzt?

    Palmer: Weil man sich ewig Zeit lässt für die Zulassung. Die Schein-Sicherheit von bürokratischer Prüfung wird über die reale Sicherheit eines Impfstoffes gestellt. Das sind Dinge, die einen frustrieren können. CureVac hat auf Vorrat Impfstoff produziert. Jetzt könnten diese Dosen Leben retten. Der Impfstoff hat hervorragende Daten, wahrscheinlich wird er am Ende der beste von allen auf dem Markt befindlichen Impfstoffen sein. Was fehlt, ist die Endkontrolle in Brüssel, um ihn endlich verwenden zu können. Da wäre eine Notfallzulassung genau richtig. Wann sollte denn eine Notfallzulassung Sinn machen, wenn nicht in der dritten Welle dieser Pandemie?

    Zur Person: Boris Palmer, 48, ist Oberbürgermeister der baden-württembergischen Universitätsstadt Tübingen. Immer wieder fällt der Grünen-Politiker mit eigenen Aktionen und Ideen auf. Entgegen dem Rat von Wissenschaftlern hat er die Corona-Regeln in seiner Stadt über mehrere Wochen gelockert. Inzwischen greift die Notbremse.

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