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Hintergrund: Das ist Merkels europäisches Vermächtnis

Hintergrund

Das ist Merkels europäisches Vermächtnis

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    Das Europäische Parlament erlebt eine selten angriffslustige deutsche Kanzlerin. Angela Merkel attackiert die Regierungen Polens und Ungarns und spricht sich für die „Vision“ einer europäischen Armee aus. Selbst Buhrufe von EU-Gegnern kontert sie geschickt. Am Ende bekommt Jean-Claude Juncker sogar feuchte Augen. „Ich bin massivst einverstanden – mit allem, was Sie hier gesagt haben, Frau Bundeskanzlerin“, sagt der EU-Kommissionspräsident.

    Gerade mal 30 Minuten braucht Merkel, um alles, was der Gemeinschaft auf den Nägeln brennt, abzuhaken – und vor allem Lektionen zu erteilen. Seit Monaten treten die 28 Staats- und Regierungschefs der EU einer nach dem anderen vor den Abgeordneten auf, um ihre Vorstellungen zur Zukunft der EU zu präsentieren. Merkel ist die Nummer zwölf. Doch es wird keine theatralische Ansprache. Als Erstes nimmt sie die polnische und die ungarische Regierung ins Visier, mit denen der Streit um demokratische Grundsätze schon Monate dauert: „Wer rechtsstaatliche Prinzipien in seinem Land aushöhlt, wer die Rechte der Opposition und der Zivilgesellschaft beschneidet, wer die Pressefreiheit einschränkt, der gefährdet nicht nur die Rechtsstaatlichkeit in seinem eigenen Land, sondern er gefährdet die Rechtsstaatlichkeit von uns allen in ganz Europa“, heißt ihre klare Botschaft.

    Merkel: „Die Zeiten, in denen wir uns vorbehaltlos auf andere verlassen konnten, sind vorbei“

    Über die USA sagt sie ungeschminkt: „Die Zeiten, in denen wir uns vorbehaltlos auf andere verlassen konnten, sind vorbei. Also müssen wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.“ Die Vision einer europäischen Armee „würde der Welt zeigen, dass es nie wieder Krieg zwischen unseren Ländern geben wird“, sagt Merkel und stellt sich damit an die Seite des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Das bringt ihr Buhrufe ein, die gar nicht enden wollten. „Ich lass mich nicht irritieren, ich freue mich darüber. Ich komme auch aus einem Parlament“, lächelt sie den Protest weg.

    Vor dieser Rede hatten einige spekuliert, ob hier nicht eine kraftlose Bundeskanzlerin zu sehen sein würde, eine Regierungschefin am Spätabend ihrer Herrschaft, die in Europa keinen Einfluss mehr hat. Das Gegenteil ist der Fall. Neben der Armee will Merkel einen europäischen Sicherheitsrat, in dem die Außenpolitik noch effizienter vernetzt wird und kein Zwang zur Einstimmigkeit mehr bremst: „Wir merken doch jetzt schon, dass wir unsere Interessen dort viel besser verteidigen können, wo wir gemeinsam auftreten.“ Die Wirtschafts- und Währungsunion soll weiter entwickelt werden. An der Fertigstellung der Bankenunion arbeite man – dazu gehöre eine gemeinsame Einlagensicherung. Merkel: „Aber die kann erst kommen, wenn alle ihre Risiken beseitigt haben. Denn Sicherheit und Mithaftung gehören zusammen.“ Noch vor Weihnachten soll es einen Durchbruch bei der Digitalsteuer für Unternehmen wie Google & Co geben. Bei der Migration attackiert die Kanzlerin erneut die Oststaaten, denen sie ins Stammbuch schreibt: „Wir brauchen ein gemeinschaftliches Asylverfahren. Wenn nämlich jeder diese Verfahren führt, wie er will, darf sich niemand wundern, dass kriminelle Menschenschleuser dies wissen und ausnutzen.“ Im Übrigen sei es ein Geburtsfehler des Schengen-Systems gewesen, nicht sofort auch ein Einreise-Management entwickelt zu haben, wie es jetzt gerade für Bürger aus Drittstaaten eingeführt wurde.

    Eindringlicher Appell an die EU-Parlamentarier

    Merkel lässt in Straßburg durchblicken, dass sie das Treffen zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges in Paris sehr bewegt hat. Deshalb gerät ihr Abschlussappell vor den EU-Parlamentariern zu einem Aufruf, der durchaus eindringliche Züge hat: „Wir dürfen die europäische Chance nicht vertun. Dies sind wir den vergangenen und kommenden Generationen schuldig.“

    Die deutsche Regierungschefin hinterlässt ein, zumindest in weiten Teilen, tief beeindrucktes Parlament. Auf den Gängen wird anschließend bedauert, dass sich „diese Politikerin“ endgültig verabschieden will und einen Wechsel nach Brüssel ausgeschlossen hat.

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