Herr Schneider, am Dienstag steht Hartz IV auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts. Kommen die Hüter der Verfassung der Politik wieder einmal zuvor und kippen Hartz IV bei den Sanktionen?
Ulrich Schneider: Das wollen wir auf jeden Fall hoffen. Wir haben einerseits fachlich ungeheure Schwierigkeiten mit den Sanktionen, weil sie in der Praxis nichts bringen. Und wir haben andererseits schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken. Es kann nach Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht sein, Menschen durch eine Kürzung einer staatlichen Leistung in ein Leben unterhalb des Existenzminimums zu schicken.
Genauso argumentiert auch das Sozialgericht Gotha, das das Verfassungsgericht angerufen hat. Können die Verfassungsrichter daran überhaupt noch vorbeikommen?
Schneider: Das kann ich nicht beurteilen, dazu reicht meine Fantasie nicht. Schon bei vergangenen Urteilen des Verfassungsgerichts, zuletzt zu der Höhe der Regelsätze im Jahre 2010, hat meine Fantasie nicht gereicht, um zu sagen, das lässt das Bundesverfassungsgericht durchgehen. Damals hieß es trotz aller gravierenden Bedenken, die Regelung sei gerade noch verfassungsrechtlich zulässig. Daher wage ich keine Prognose.
Aber sind Sanktionen denn nicht auch notwendig, wenn sich Betroffene nicht an die allgemeinen Regeln oder an Auflagen halten?
Schneider: Gerade einmal drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher werden sanktioniert. Und lediglich ein halbes Prozent wird wegen wirklicher Arbeitsverweigerung bestraft. Meist geht es um versäumte Termine oder andere kleinere Verstöße. Da stellt sich die Frage: Ist die Verhältnismäßigkeit überhaupt noch gewahrt? Denn es geht um das Existenzminimum. Und das zweite ist: Wäre es nicht sinnvoller, die Jobcenter würden sich um die 97 Prozent kümmern, die arbeiten wollen, die arbeiten können, die ihren Verpflichtungen nachkommen, und diese zu fördern statt zu sanktionieren?
Gleichzeitig sagt das Sozialgericht, Hartz IV verstoße gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit, die Pflicht, jede angebotene Arbeit anzunehmen, käme einer „Zwangsarbeit“ gleich. Aber ist eine Arbeitsstelle für einen Arbeitslosen nicht in jedem Fall besser als überhaupt kein Job?
Schneider: Nein. Diesen Spruch, jede Arbeit sei besser als keine Arbeit, den teilen wir aus unserer Erfahrung heraus nicht. Es gibt Arbeit, die ist unzumutbar und kann Menschen krank und fertig machen. Man muss immer auf den Einzelfall schauen. Auch das Können des Betroffenen, seine Qualifikation, seine Erfahrung sind entscheidend. Wir fordern daher, dass bei Hartz IV die gleichen Zumutbarkeitsregeln gelten wie beim Arbeitslosengeld I, damit man nicht gleich vom ersten Tag an alles machen muss und ins Nichts stürzt, sondern stufenweise schaut, ob man etwas Passendes findet. Ansonsten wird die Lebensleistung von Menschen mit den Füßen getreten.
Sollte Karlsruhe die Sanktionen für verfassungswidrig erklären, würde ein zentraler Baustein der rot-grünen Arbeitsmarktreformen kippen, nämlich das Prinzip „Fordern und Fördern“. Wäre das der Anfang vom Ende der Agenda 2010?
Schneider: Es würde endlich Schluss gemacht werden mit dem negativen Menschenbild, das hinter der Agenda 2010 steht. Die Agenda 2010 geht davon aus, dass die Menschen von Grund auf faul sind, dass man ihnen Beine machen muss, dass sie, wenn man ihnen das Existenzminimum gibt, keine Lust mehr zum Arbeiten hätten und man sie deshalb sanktionieren muss. Diese Einstellung prägt die Agenda-Politik von Anfang an, dafür steht Hartz IV. Wenn nun endlich die Sanktionen wegfallen würden, wäre das ein Zeichen, dass man sich von diesem negativen Menschenbild verabschiedet. Die Menschen wollen arbeiten. Und die meisten Hartz-IV-Bezieher arbeiten ja auch. Von den 4,4 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehern sind nur 1,4 Millionen arbeitslos.
Die SPD strebt eine Reform von Hartz IV an. Wie sollte die aussehen? Wenn Sie sagen, dass viele der Hartz-IV-Bezieher arbeiten und dennoch eine Sicherung des Existenzminimums benötigen, zeigt dies, dass offenbar bei den Löhnen Handlungsbedarf besteht?
Schneider: So ist es. Wenn wir über eine Reform von Hartz IV sprechen, steht im Zentrum, dass sich die Regelsätze endlich erhöhen müssen, um tatsächlich existenzsichernd zu sein. Eine Anhebung von derzeit 424 auf 570 Euro halten wir für zwingend notwendig. Zudem fordern wir die Abschaffung der Sanktionen und die Einführung eines Rechts auf Arbeit, auch für die Langzeitarbeitslosen. Wer arbeiten will, muss auch arbeiten können. Und wenn der erste Arbeitsmarkt das nicht schafft, muss es ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt möglich machen. Das bedeutet eine Verzahnung von öffentlich geförderter und sozialer Arbeit, im Notfall flankiert von Schuldner- oder Suchtberatung. Das heißt für uns Fördern. Fördern darf kein Alibi sein für sinnlose Maßnahmen, die ohne Erfolg bleiben, sondern ein echter öffentlich geförderter zweiter Arbeitsmarkt.
Müssten sich die Regelsätze nicht an den tatsächlichen Lebenshaltungs- und Wohnkosten orientieren – München ist nun mal nicht die Uckermark?
Schneider: Die großen Diskrepanzen haben vor allem mit den Wohnkosten zu tun. Die Lebenshaltungskosten unterscheiden sich so groß nicht, die Preise bei den Discountern sind in ganz Deutschland relativ gleich. Es sind die Mieten und in letzter Zeit auch die Energiekosten, die zu Buche schlagen. Da sagen wir: Die Mieten müssen in voller Höhe übernommen werden, was derzeit faktisch nicht der Fall ist. Es kann nicht sein, das man vom Hartz-IV-Regelsatz auch noch einen Teil der Miete bezahlen muss. Damit hätte man den Ausgleich geschaffen zwischen teuren Städten und Ballungsräumen und billigeren Regionen.
Zur Person: Ulrich Schneider, 60 Jahre alt und promovierter Erziehungswissenschaftler, ist seit 1999 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Diesem gehören mehr als 10.000 Vereine, Organisationen, Einrichtungen und Initiativen an, die das Spektrum sozialer Arbeit in Deutschland repräsentieren.
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