Er habe seinen politischen Kompass noch nicht so weit verloren, dass er sich auf ein solches Spiel einlasse, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan über die Forderung nach Umwandlung der Hagia Sophia von einem Museum in eine Moschee. Das war vor einem Jahr. Ein Video mit den damaligen Äußerungen des Staatschefs machte am Wochenende in den sozialen Medien der Türkei Furore; schließlich hat Erdogan jetzt genau das getan, was er 2019 noch ablehnte: Er hat die Hagia Sophia zur Moschee erklärt. Auf den ersten Blick wirkt die Entscheidung wie ein Schritt zur Islamisierung der Türkei. Doch Erdogans Sinneswandel ist mehr dem wachsenden Einfluss der türkischen Nationalisten auf den Kurs des Präsidenten geschuldet als dem Islamismus.
Graue Eminenz in Ankara ist Devlet Bahceli, Vorsitzender der rechtsgerichteten Partei der Nationalen Bewegung (MHP). Der 72-Jährige steht seit 1997 an der Spitze seiner Partei und war lange ein Erzfeind des sechs Jahre jüngeren Erdogan. Noch vor fünf Jahren kündigte Bahceli an, er werde Erdogan vor Gericht bringen. Im Parlament von Ankara ist die MHP mit 49 Abgeordneten nur viertstärkste Kraft, in den Umfragen liegt sie derzeit bei etwa acht Prozent. Doch Bahcelis Macht ist weit größer, als diese Zahlen suggerieren.
Aus den Feinden Bahceli und Erdogan wurden Verbündete
Heute sind Bahceli und Erdogan keine Feinde mehr, sondern Verbündete. Seit zwei Jahren treten AKP und MHP bei Wahlen gemeinsam als „Bündnis der Republik“ an. Die Allianz ermöglicht es der schwächelnden MHP, die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu umgehen. Umgekehrt ist die MHP die Mehrheitsbeschafferin der AKP in der Volksvertretung und ermöglicht Erdogan so das Regieren ohne Widerstand aus dem Parlament. Erdogans Bündnis ist ein indirektes Eingeständnis, dass die AKP allein keine Mehrheiten mehr gewinnen kann und keine anderen Partner mehr hat.
Die MHP nutzt die Schwäche des größeren Partners aus und Bahceli, dessen Vorname „Staat“ bedeutet, ist heute die Macht hinter dem Thron. „Erdogan trägt die Trommel, aber Bahceli spielt sie“, sagte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu dem Journalisten und Blogger Murat Yetkin. Vor jeder Entscheidung hole Erdogan das Einverständnis des MHP-Vorsitzenden ein.
MHP-Chef Bahceli hat die AKP nach rechts gedrängt
Das mag übertrieben sein, aber der Nationalisten-Chef hat großen Einfluss auf die Regierung. Vor zwei Jahren war es Bahceli, der vorgezogene Neuwahlen forderte, und es war Erdogan, der sich dieser Forderung beugen musste. Seitdem hat Bahceli die AKP-Regierung immer weiter nach rechts gedrängt. Der MHP-Chef ist in einer sehr komfortablen Lage: Er kann die Politik mitbestimmen, ohne sich als offizielles Mitglied der Regierung der Kabinettsdisziplin unterwerfen zu müssen.
Dieser Einfluss macht sich immer stärker bemerkbar. Die MHP besteht auf einem harten Kurs in der Kurdenpolitik. Im Frühjahr setzte Bahceli eine umstrittene Teilamnestie durch, die einem prominenten rechtsgerichteten Mafiaboss die Freiheit brachte. Seit einiger Zeit erhöhen die Behörden den Druck auf protestantische Christen im Land, die von Nationalisten als potenzielle Staatsfeinde betrachtet werden. In der Diskussion um das Schicksal der Hagia Sophia schloss sich Bahceli früh den Forderungen der Moschee-Anhänger an und brachte Erdogan in Zugzwang.
Soziologe Bilici sagt: „Erdogan ist keiner Moral verpflichtet“
Selbst in Details wird deutlich, wie sehr Erdogan inzwischen auf die Rechten setzt. Der Präsident lässt sich von seinen Anhängern mit „Reis“ – Boss – titulieren, einem Begriff aus der rechten Szene und Unterwelt, wie der Journalist und AKP-Kenner Rusen Cakir anmerkt.
Schon nach den Gezi-Protesten von 2013 habe Erdogans Hinwendung zu den Nationalisten begonnen, sagte Cakir im Internet-Fernsehkanal Medyascope. Mit dem Rechtstrend habe Erdogan die demokratischen Prinzipien der AKP über Bord geworfen: „Er verursachte damit die vollkommene Erosion der Fundamente, auf denen die AKP gebaut ist.“
Besonders schwer fiel Erdogan dieser Schwenk nicht, sagte Mucahit Bilici, Soziologe an der City University in New York, unserer Redaktion. „Erdogan ist das, was ich einen puren Politiker nenne – er vertritt eine Spielart der reinen Politik, die keiner Ideologie oder auch nur Moral verpflichtet ist.“ Es gehe dem Präsidenten ausschließlich um die Macht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist Erdogans Sinneswandel bei der Hagia Sophia keine Überraschung. Mit politischem Islam hat die Entscheidung wenig zu tun, denn dieser hat sich unter Erdogan „in einen religiös-nationalistischen Populismus verwandelt“, wie Bilici formuliert.
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