Der Vorschlag ist überhaupt nicht neu, aber aus dem Munde von Grünen-Chef Robert Habeck hat er Durchschlagskraft. "Holt als erstes die Kinder raus", sagte Habeck der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und hatte dabei die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos im Sinn. Die Lage dort ist menschenunwürdig, die Regierung in Athen tut vieles dagegen, ist aber dem Ansturm von Flüchtlingen nicht gewachsen. Habecks Appell ist nachvollziehbar. Nur: Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius hatte bereits Anfang November vorgeschlagen, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – von denen es nach Angaben der Bundesregierung rund 4000 gibt – schnell von den griechischen Inseln zu holen. Der Niedersachse verbündete sich noch mit seinen Amtskollegen Georg Maier aus Thüringen und Andreas Geisel aus Berlin. Das Trio richtete seine Bitte an den zuständigen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Flüchtlingspolitik: Ein Alleingang von Deutschland ist unwahrscheinlich
Seehofer ist solchen Vorschlägen auch gar nicht abgeneigt, wie ein Ministeriumssprecher am Montag betonte. Die Verhältnisse auf den griechischen Inseln seien nicht tragbar und müssten verändert werden, hieß es. Aber: Die Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen ist nach Auffassung der gesamten Bundesregierung eine, die auf europäischer Ebene getroffen werden muss. Ein deutsches Solo bei der Flüchtlingsrettung ist eher unwahrscheinlich. Daran wird auch die Ankündigung aus Thüringen, notfalls im Alleingang vorzugehen, kaum etwas ändern.
Parteifreund erklärt Habeck sei "für die großen Linien" zuständig
Habeck wird wissen, dass es nicht so einfach ist, Kinder von einer Insel zu holen und sie nach Deutschland zu bringen. Aber das Prozedere an sich dürfte ihm egal sein. "Das war mal wieder typisch Robert", sagt ein Parteifreund. Der 50-Jährige sei in der Parteispitze eben "für die großen Linien" zuständig. Eine Wegbegleiterin lenkt in diesem Zusammenhang den Blick darauf, dass Habeck nicht nur Politiker, sondern auch Schriftsteller ist. Habeck gebe die großen Zusammenhänge vor, bestätigt sie, er verliere sich nicht ins Klein-Klein. Die Abläufe im politischen Berlin stützen diesen Eindruck. Bei den finalen Verhandlungen zum Klimapaket saß nicht etwa Habeck, sondern Grünen-Fraktionschef Toni Hofreiter mit am Tisch. Den Eindruck, Habeck wolle sich mit solchen Vorschlägen in den Vordergrund schieben und der Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock – zum Beispiel im Rennen um die Kanzlerkandidatur – den Rang ablaufen, weisen Grünen-Politiker zurück. In Partei wie Fraktion sind sie froh, dass sie die beiden haben.
Frühere Parteivorsitzende zeichneten sich dadurch aus, dass sie ständig Streit mit der Fraktions- und Geschäftsführung hatten. Mit Baerbock und Habeck ist bei den Grünen auch deshalb Ruhe eingekehrt, weil sie sich nicht ganz so wichtig nehmen. Beide haben ihre Schreibtische zusammengeschoben, arbeiten gemeinsam in einem Büroraum. Beiden wird eine gute Aufgabenverteilung attestiert. "Man weiß immer, wen man ansprechen muss", sagt eine Grünen-Abgeordnete. Beide leben außerdem vor, dass es neben der Politik noch ein Leben und bei einem politischen Scheitern auch ein neues Berufsleben gibt.
Wer für die Grünen als Kanzlerkandidat antritt, ist noch nicht entschieden
Gefühlt ist Habeck zwar in der Öffentlichkeit präsenter, aber das kann täuschen. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland zählte kürzlich die Talkshow-Auftritte deutscher Politiker nach und kürte Baerbock zur Siegerin. Auf dem letzten Grünen-Parteitag wurde sie mit sagenhaften 97,1 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Habeck bekam sieben Prozentpunkte weniger.
Eine vorzeitige Antwort auf die Frage, wer aus dem Grünen-Führungsduo am Ende als Spitzenkandidat oder Spitzenkandidatin antritt, ist damit noch nicht gegeben. In der Partei traut man dem Umfragehoch ohnehin noch nicht so richtig. Die Werte haben sich nach einer leichten Delle im November gerade wieder etwas erholt. Ihre Tragfähigkeit muss sich aber erst noch erweisen. Am Ende, wenn es zum Schwur kommt, werden Baerbock und Habeck die K-Frage vermutlich friedlich unter sich ausmachen. In der Partei schließen sie auch nicht aus, dass es wieder einen "typischen Robert" gibt – und Habeck seiner Co-Vorsitzenden elegant den Vortritt lässt.
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