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Gesundheit: Warum lässt du dir nicht helfen?

Gesundheit

Warum lässt du dir nicht helfen?

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    „Es war für mich erleichternd, mit Menschen zu reden, die mich verstehen konnten.“Von psychischen Störungen sind nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch Familie und Freunde betroffen. Wenn die Erkrankten jegliche Behandlung ablehnen, fühlen sich die Angehörigen oft allein gelassen.  	„Dass kein Geld für die psychische Krankenhilfe da ist, kann ich mir nicht vorstellen.“
    „Es war für mich erleichternd, mit Menschen zu reden, die mich verstehen konnten.“Von psychischen Störungen sind nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch Familie und Freunde betroffen. Wenn die Erkrankten jegliche Behandlung ablehnen, fühlen sich die Angehörigen oft allein gelassen. „Dass kein Geld für die psychische Krankenhilfe da ist, kann ich mir nicht vorstellen.“

    Zunächst war es das Autoradio, das Albertine Ohlmann störte: „Der ganze Verkehr und dann noch das Gequatsche im Radio – das kann ich nicht, das nervt mich“, sagte sie. Ihr Ehemann Helmut hat sich damals nicht viel dabei gedacht. Rückblickend weiß er heute: Die vielen Geräusche waren eine Reizüberflutung und eines der ersten Anzeichen für ihre schizophrene Erkrankung. Dass etwas nicht stimmt, wurde ihm erst später bewusst: Als

    Helmut Ohlmann ist als Angehöriger einer psychisch erkrankten Person nur einer von vielen. Denn psychische Störungen sind weitverbreitet. Und hinter den Betroffenen stehen meist Partner, Kinder, Eltern und Freunde. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation leidet weltweit jeder vierte Arztbesucher daran. Deutsche Studien sprechen von etwa acht Millionen Deutschen mit behandlungsbedürftigen psychischen Störungen.

    Ein großes Problem ist immer noch die Stigmatisierung solcher Erkrankungen. Viele wollen nicht darüber sprechen. Auch Familie Ohlmann heißt eigentlich anders. „Wenn man in den Zeitungen etwas über psychisch Kranke liest, dann sind das immer irgendwelche schlimmen Fälle, in denen jemand angegriffen wurde. Dass das eine Krankheit wie jede andere ist, davon hört und liest man wenig“, kritisiert Helmut Ohlmann. Hinzu kommt, dass vielen Betroffenen das Wissen fehlt oder sie nicht wahrhaben wollen, dass sie Hilfe brauchen.

    Und selbst wenn die Erkrankten es akzeptieren: Von den ersten Anzeichen einer Krankheit bis hin zu konkreter Hilfe von Psychologen, Psychiatern und Therapeuten vergeht oft viel Zeit. „Es ist sehr schwierig, Termine zu bekommen. Die Wartezeiten sind extrem lang“, sagt Ilona Luttmann. Sie ist als Fachvorstand beim Diakonischen Werk Augsburg für den Bereich Sozialpsychiatrie zuständig.

    Dieses Warten ist auch für Angehörige meist sehr belastend, auch sie brauchen oft Hilfe. Die zu finden, ist nicht leicht. „Ich kenne niemanden, der von öffentlicher Seite Hilfe bekommt“, sagt Helmut Ohlmann. Und private Angebote kennen viele nicht. Bei ihm dauerte es mehr als zwei Jahre, bis er über den sozialpsychiatrischen Dienst auf eine Selbsthilfegruppe stieß, den Angehörigenverband psychisch Kranker. „Es war für mich erleichternd, mit Menschen zu reden, die mich verstehen konnten.“ Erst dort erfuhr der heute 69-Jährige mehr über die Krankheit seiner Frau, lernte sie einzuordnen. Und er lernte zu akzeptieren, dass seine Frau jede Behandlung ablehnte.

    Denn Albertine Ohlmann wollte während ihrer mehr als zehn Jahre andauernden Krankheit nicht wahrhaben, dass sie Hilfe braucht. Anfangs diskutierte ihr Ehemann häufig mit ihr, empfahl ihr, sich Hilfe zu suchen. „Das hat sie alles abgeblockt, das Thema war tabu“, erinnert sich Helmut Ohlmann. Auch Verwandte und Freunde hatten keinen Erfolg. Oft kam es dann zum Streit, teils sogar zum Kontaktabbruch.

    Nichts Ungewöhnliches: In vielen Fällen scheitern Nahestehende mit ihren Überzeugungsversuchen. „Externe Personen haben oft mehr Erfolg“, sagt Helmut Ohlmann. Er leitet inzwischen seit vielen Jahren eine Selbsthilfegruppe für Angehörige und hat diese Erfahrung immer wieder gemacht. Ilona Luttmann weiß: „Angehörige sind oft überfordert“, sagt sie. Außenstehende können die Situation objektiver angehen.

    An dieser Stelle setzt das Konzept der aufsuchenden Hilfe an: Das sind geschulte Mitarbeiter, die Erkrankte in ihren eigenen vier Wänden aufsuchen, mit ihnen sprechen und sie über Hilfsangebote informieren. Die Vorteile: „Die Betroffenen sind in ihrer eigenen Umgebung. Außerdem werden die Angehörigen mit eingebunden“, erklärt Ilona Luttmann.

    Nicht nur Menschen, die krankheitsuneinsichtig sind, kann damit geholfen werden. Sondern auch solchen, die es aufgrund ihrer Erkrankung nicht schaffen, ihre Wohnung zu verlassen und eine Praxis aufzusuchen. Noch ist diese Form der Hilfe selten, in München gibt es sie seit einigen Jahren in Form eines Kriseninterventionsdienstes, in Oberbayern und Mittelfranken werden ähnliche Angebote derzeit ausgebaut. Im Rest des Freistaats: Fehlanzeige.

    Das soll sich in Zukunft ändern. Denn während es für körperliche Erkrankungen einen flächendeckenden Notdienst gibt, führen seelische Krisen und psychiatrische Notfälle außerhalb der Öffnungszeiten ambulanter medizinischer Stellen häufig zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Die Krisendienste sollen ein Angebot schaffen, das stationäre Einweisungen teilweise überflüssig machen könnte. Mit dem sogenannten Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz soll in ganz Bayern flächendeckend ein Angebot geschaffen werden, um solche präventive Hilfe anzubieten und Zwangsbehandlungen vorzubeugen. Angehörige sollen zunehmend einbezogen und unterstützt werden. Im Gespräch ist dieses Gesetz bereits seit mehr als sechs Jahren. Einem anfänglichen Zeitplan zufolge sollte es spätestens zum Ende der aktuellen Legislaturperiode verabschiedet werden. Doch bis jetzt besteht das Gesetz immer noch nur aus Eckpunkten, die eigentlich schon 2016 im Ministerrat besprochen werden sollten.

    Woran es hakt? Das bayerische Gesundheitsministerium antwortete im Mai auf eine Anfrage der Grünen- Landtagsabgeordneten Kerstin Celina aus Würzburg: „Sachliche Probleme stehen der Verabschiedung des Gesetzes nicht im Weg. Allerdings ist angesichts der Komplexität des Themas der Bedarf an fachlicher Abstimmung beträchtlich.“ Zufrieden ist

    In dem Gesetz geht es nicht nur um Krisendienste. „Es geht darum, diesen Drehtüreffekt zu vermeiden: raus aus der Psychiatrie, rein in die Psychiatrie“, sagt Kerstin Celina. Dafür brauche es entsprechende Vor- und Nachsorgeangebote. Außerdem soll das Gesetz die Versorgungslücke schließen, in die psychisch Kranke derzeit rutschen, wenn sie sich nicht helfen lassen wollen. Denn dem Wunsch der Angehörigen, den Betroffenen zu helfen, steht Artikel 2 des Grundgesetzes entgegen: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Die Selbstbestimmung steht an erster Stelle. Erst wenn ein Betroffener für sich selbst oder andere eine akute Gefahr darstellt, kann gegen seinen Willen etwas unternommen werden. So hat Albertine Ohlmann mit lautstarken Selbstgesprächen zwar nachts ihrem Mann den Schlaf geraubt. Aber sie hat niemanden bedroht oder sich selber gefährdet.

    Erst in diesem Fall hätte per richterlichem Beschluss eine Zwangseinweisung angeordnet werden können. Nach übereinstimmender Meinung von Betroffenen ist eine solche Einweisung jedoch problematisch. „Das geht mit einem dramatischen Eindruck einher, bis hin zum Trauma“, sagt Helmut Ohlmann. „Hinterher möchte das keiner der Betroffenen mehr erleben, wenn auch manche der Meinung sind, dass es damals nicht anders ging.“ Das Psychische-Kranken-Hilfe-Gesetz soll diesem letzten Schritt vorbeugen, will sanfter ansetzen. Auch Wartezeiten für Behandlungen sollen dadurch verkürzt und Kurzzeitpflegen ermöglicht werden.

    Möglicherweise hätte eine solche gesetzliche Regelung auch Albertine Ohlmann helfen können. Bis zum Schluss lehnte sie jegliche Form von Hilfe ab. „Sie war der Meinung: ,Ich bin nicht krank. Ihr seid alle nicht bei Sinnen,‘“ sagt ihr Ehemann. Anfang 2015 ist Albertine Ohlmann infolge einer unbehandelten Krebserkrankung gestorben.

    In ihrem Bauchraum war ein Tumor gewachsen. Die Vorbereitungen für erste Untersuchungen wie eine Darmspiegelung schaffte sie wegen ihrer Erkrankung nicht, sie war überfordert. „Das war der Beginn, dass dieser Tumor nicht behandelt werden konnte“, sagt ihr Ehemann. Spätere Behandlungen brach sie ab oder trat sie erst gar nicht an – auch das vermutlich als Folge ihrer psychischen Erkrankung. „In der letzten Phase waren diese Stimmen, die sie hörte, eine Tortur für sie. Immer wieder fragte sie, warum die sie nicht in Ruhe lassen“, erinnert sich ihr Ehemann. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie deshalb vielleicht gar nichts mehr machen wollte. Ob sie sich vielleicht einfach aufgegeben hat.“

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