Am Anfang war Corona eine Seuche der Reichen, in der globalisierten Welt verbreitet von viel fliegenden Geschäftsreisenden. In Deutschland erkrankten dann zunächst meist diejenigen, die sich die Skiferien in Österreich und den Urlaub in Italien leisten können.
Jetzt aber wendet sich das Blatt: Aktuelle Hotspots sind etwa prekäre Wohnblocks in Göttingen und im Berliner Problembezirk Neukölln. Geradezu explosionsartig breitet sich das Virus auch in großen Schlachtbetrieben aus, die in einem verschachtelten System von Subunternehmen Arbeitskräfte aus dem Ausland beschäftigen. Nicht selten sind die Lohnschlächter unter himmelschreienden Bedingungen in Wohnheimen kaserniert. Die massiven Corona-Ausbrüche in den Großschlachtereien sind nur die letzte Mahnung an die Politik, die unhaltbaren Zustände in der Fleischindustrie nicht länger zu tolerieren.
Warum Corona Missstände in der Gesellschaft neu aufdeckt
Überall dort, wo Menschen auf engstem Raum zusammenarbeiten und leben, sind die Maßnahmen, die in den bessergestellten Schichten der Gesellschaft halfen, das Virus einzudämmen, schlichtweg unmöglich. Schweine im Akkord zu zerlegen, um den Nachschub an Billigfleisch zu sichern, das geht kaum im Homeoffice. Wo zu viele Menschen sich einen Raum teilen müssen, sind Hygienevorschriften nur schwer einzuhalten. Eine Corona-App, die nur auf modernen Handys läuft, die nicht europäisch vernetzt ist und Warnungen oft erst Tage nach einem möglicherweise ansteckenden Kontakt verschickt, hilft da erst recht nicht.
All diese Probleme waren auch schon vor Corona bekannt, doch sie waren von einem Mantel des Schweigens bedeckt. Den hat die Seuche jetzt gnadenlos zerfetzt. Die Bilder des Elends in unserem vermeintlich so reichen Land zeigen sich jetzt in ihrer ganzen schonungslosen Brutalität. Und sie sind vielschichtig.
Wenn die Behörden wie jetzt etwa im Falle Berliner Mietskasernen nicht einmal wissen, wie viele Menschen in bestimmten Wohnungen überhaupt leben, bestehen offensichtlich gefährliche Defizite bei der Registrierung. Das Nachverfolgen von Kontakten oder das Durchsetzen von Quarantäne-Anordnungen wird so nahezu unmöglich. Hinzu kommen oft Sprachbarrieren und die Furcht vor behördlichen Sanktionen. Wenn es aber nicht gelingt, auch in prekären Wohnsiedlungen oder Asylbewerberheimen für effektiven Infektionsschutz zu sorgen, wird die Pandemie kaum zu besiegen sein. Darunter leiden dann alle – für die Politik gibt es also viel zu tun.
Wohlstand kann in der Pandemie ein Vorteil sein
Die Entwicklung in Deutschland ist ein Spiegelbild der weltweiten Situation. In den reichen Ländern haben drastische Maßnahmen teils zu einem Abflachen der Infektionskurven geführt, viele Regierungen bekommen die Seuche immer besser in den Griff. Auf den Lockdown folgt nun eine Phase der Lockerungen. Dagegen wütet das Coronavirus in den ärmeren Teilen der Welt fast ungebremst.
Natürlich stimmt es, dass die Pandemie nur Verlierer kennt, das Virus Millionäre wie Mittellose dahinrafft. Doch die Möglichkeiten, sich zu schützen, sind ungleich verteilt. Gleiches gilt für die wirtschaftlichen Auswirkungen der Seuche. Bei den einen wächst der Wohlstand nicht mehr so schnell, andere werden rapide noch ärmer. Wer zuvor schon kaum über die Runden kam, muss jetzt erst recht ums Überleben kämpfen. Und dann schlagen den Betroffenen auch oft noch Argwohn und Vorurteile entgegen. Corona wirft alte, oft verdrängte soziale Fragen neu auf. Die Politik muss darauf Antworten finden. Es wäre fatal, wenn die Warnungen, dass Corona die bestehende Spaltung der Gesellschaft noch zu verstärken droht, ungehört verhallen würden.
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