Lange Zeit war die Stimmung besser als die Lage. Jetzt aber, ein Jahr nach den ersten Corona-Fällen, droht sie endgültig zu kippen. In der Wirtschaft wachsen Unruhe und Furcht. Schulen und Familien agieren längst oberhalb des Limits. Der Meinungsstreit wird schärfer. Vor allem aber: Je länger der perspektivlose Lockdown dauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass er eine veritable „Corona-Generation“ erzeugt, die an Geist, Seele oder Auskommen irreparable Schäden davonträgt.
Da streift nun auch das tausendfach gebrauchte Wort, Deutschland sei doch „insgesamt gut durch die Pandemie gekommen“ die Grenze zum Zynismus. Wer es, wie neulich die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin, öffentlich verwendet, zieht Kritik auf sich. Denn wirkt dieser Satz nicht tatsächlich wie Hohn auf jene Millionen von Deutschen, denen es eben alles andere als gut geht? Da nützt auch die Ankündigung der Bundesregierung nichts, die Grenzen gegenüber bestimmten Ländern zu schließen. Vielmehr ist sie ein beklemmendes Déjà-vu. Geht nun alles wieder von vorne los? Nur mit dem Unterschied, dass aus früheren „Risikogebieten“, gegen die man sich schützen will, nun „Mutationsgebiete“ geworden sind? Was für ein Wortungetüm!
Politiker befinden sich durch die Corona-Krise in einer beispiellosen Zwangslage
Zuzugestehen ist, dass sich Politikerinnen und Politiker in einer beispiellosen Zwangslage befinden. Sie stecken fest im Dickicht sich widersprechender Anforderungen: Pandemiebekämpfung und Expertenempfehlungen, wirtschaftliche Erwägungen und rechtliche Begrenzungen, Druck der Verbände und individuelle Ansprüche. Manchem wird auch das Gewissen schlagen, das darauf hinweist, wie die Last in der Bevölkerung täglich wächst. Und schließlich muss die Politik ein Minimum von Optimismus erzeugen, damit nicht das ganze Land in der Depression versinkt. Flache Politikerschelte verbietet sich daher. Jedenfalls sollte, wer allzu forsch von „Politikversagen“ spricht, eine klare Vorstellung davon haben, was denn zu welchem Zeitpunkt tatsächlich hätte besser gemacht werden können. Trotzdem müssen wir danach fragen, was die Pandemie politisch mit uns und unserem Gemeinwesen macht. Welche Auswirkungen hat sie auf politische Mentalitäten und Einstellungen?
Zu den grundlegenden Beobachtungen gehört es, dass sich die Kategorie des Nationalen verstärkt hat. Das kam anfangs ganz plausibel daher, so etwa, wenn man darauf vertrauen durfte, dass die Deutschen über außergewöhnliche Spielräume zur finanziellen Hilfe verfügten. Der Bundesfinanzminister packte die „Bazooka“ aus, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Deutschland über besonders gute finanzielle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen verfüge, die anderen Ländern nicht in gleichem Maße zu Gebote stünden. Ferner verwiesen Politiker gerne auf den starken deutschen Sozialstaat, das im internationalen Vergleich besonders leistungsfähige Gesundheitssystem und – anfangs zumindest – auf die administrativen Vorteile des Föderalismus. Schnell entstand eine Stimmung des „Gott sei Dank ist es bei uns nicht so wie in Italien, Spanien oder Frankreich“. Parallel dazu erfolgte die Konstruktion von immer zahlreicheren ausländischen „Risikogebieten“, gegen die es die Deutschen abzuschotten galt. So zog sich die Nation in das Gehäuse ihrer vermeintlichen Sicherheit zurück.
Die Corona-Pandemie ist eben doch keine nationale Angelegenheit
Heute stellen wir fest, dass dies nicht nur selbstgefällig, sondern auch in der Sache ein Trugschluss war. Allmählich begreifen die Deutschen, dass sie doch nicht so gut durch die Pandemie kommen. Corona ist eben keine nationale Angelegenheit, sondern eine globale Herausforderung. Indes war anfangs allein der Nationalstaat in der Lage zu handeln, wenn es um Infektionsschutz und Gesundheitsprävention ging. Dagegen vermochten weder internationale Organisationen noch die Europäische Union einzuschreiten. Das war überraschend, denn seit etwa drei Jahrzehnten hatte sich der Eindruck eingestellt, dass nationale Grenzen und Territorien eine immer geringere Rolle spielten.
Die Idee, jedes Land könne eine territoriale Kontrolle über den Fluss von Menschen, Waren und Kommunikation ausüben, galt schon in den 1980er Jahren als archaisch. Nun aber reagierten nationale Regierungen geradezu elementar auf die Herausforderungen. Reflexhaft schlossen die Staaten im März 2020 ihre Grenzen. Für die Europäer bedeutete das einen schmerzlichen Schock. Immerhin beruht der Daseinszweck der EU ganz wesentlich auf ihren vier Grundfreiheiten des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Diese elementaren Freiheiten wurden über Nacht partiell außer Kraft gesetzt, und es ist kein Ruhmesblatt für die Bundesregierung, dass sie damals zu denen gehörte, die sich besonders beeilten, die Grenzen zu schließen.
Gleichzeitig erfuhren die Europäer eine beunruhigende Abhängigkeit von ihren globalisierten Märkten, nun aber nicht wegen des Absatzes, sondern wegen mangelnder Importe. Medikamente, Masken und Schutzkleidung wurden rar oder standen anfangs überhaupt nicht zur Verfügung, da sie aus Asien stammten und hierzulande gar nicht hergestellt wurden.
Grenzschließungen sind primär Symbolpolitik
Grenzschließungen waren und sind primär Symbolpolitik. Denn gerade dann, wenn sie als „Ultima Ratio“ erwogen werden, finden sie zu einem Zeitpunkt statt, da der Reiseverkehr ohnehin fast zum Erliegen kommt. Das war schon im März 2020 so, und das wird auch jetzt der Fall sein. Wer in diesen Tagen den Dornröschenschlaf der Großflughäfen betrachtet, braucht schon einige Fantasie, um sich eine Rückkehr zur gewohnten Mobilität vorstellen zu können. Im kleinräumigen Europa hat der ohnehin unsichere epidemiologische Gewinn der Grenzschließung einen viel zu hohen politischen Preis. Die immer wieder reproduzierte, regierungsamtliche Raumkonstruktion von Risikogebieten, neuerdings „Hochrisikoländern“ oder „Mutationsgebieten“ vernebelt die Sinne und erzeugt irreführende nationale Stereotypen.
Wollte man an dieser Stelle wirklich konsequent sein, hätte man im Frühjahr 2020 die deutschen „Risikogebiete“ abriegeln müssen, also etwa den Großraum München, später Heinsberg, jüngst auch Sachsen. Wahrscheinlich wäre das, wie das chinesische Beispiel nahelegt, die effizienteste Pandemiebekämpfung gewesen. Aber sie ist in einem demokratischen Rechtsstaat nicht möglich. Überdies verfügt Deutschland ebenso wenig wie seine Nachbarn über entsprechend ausreichende Polizeikräfte und digitale Überwachungstechnologien, um solch brachiale Mittel durchzusetzen. Und das ist auch gut so.
Umso irritierender ist es, dass die Bundesregierung nun erneut so tut, als hätte das Virus einen Reisepass und hinge seine Virulenz von der Nationalität ab. Im Grunde kompensiert sie damit bloß ihre mangelnden rechtlichen und exekutiven Möglichkeiten, die Mobilität im Innern stillzulegen. Die Abschließung nach außen erweckt den trügerischen Eindruck, es gebe einen epidemiologisch in sich geschlossenen deutschen Raum, an dessen Grenze sich dann nationale Handlungsmacht demonstrieren lässt. Intelligentere Lösungen wie eine endlich systematisch und konsequent durchzuführende transnationale Teststrategie bleiben demgegenüber auf der Strecke. Überdies ist es nur ein kleiner Schritt von solchen nationalen Raumkonstruktionen zu einem Impfnationalismus, den zwar jeder verhindern will, der aber in der Logik des beschrittenen Weges liegt.
Die Pandemie entlarvt Populisten, befördert aber auch das verengte Denken
All das zeigt: Im kleinräumigen Europa ist es gefährlich, ein exklusiv nationales Bewusstsein zu fördern, etwa im Sinne des „Wir bereiten das jetzt national vor“, das der Bundesinnenminister gerade verkündet hat. Populisten aller Couleur warten nur darauf: Sie alle stehen stellvertretend für den Rückfall in einen flachen Nationalismus, dessen Horizont an den eigenen Landesgrenzen endet. Die Pandemie hat in dieser Richtung paradox gewirkt. Zwar lehrte ihre Wucht so manchen Populisten das Fürchten und entlarvte die Nichtswürdigkeit ihrer demagogischen Pose. Andererseits aber hat Corona das national begrenzte und verengte Denken auch befördert.
Wo immer es geht, sollte dem Einhalt geboten werden; auch wenn dies um den Preis der Einsicht geschieht, dass wir eben doch nicht besonders gut durch die Pandemie gekommen sind.
Zum Autor: Andreas Wirsching, 61, ist seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München. Er ist Autor zahlreicher Bücher.
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