Verängstigte und misshandelte Tiere, geknechtete Mitarbeiter: Das Coronavirus hat die Arbeitsweise auf einigen deutschen Großschlachthöfen in den Fokus gerückt. Die Politik reagierte und erließ neue Regeln, die von Teilen der Branche offenbar schon wieder umgangen werden.
Die Grünen wollen dem Gebaren nun insgesamt einen Riegel vorschieben. Agrarexperten der Partei haben ein Konzept erarbeitet, das die Branche komplett umkrempeln soll. Dezentralisierung ist das Stichwort, und die befürwortet auch die Bundeslandwirtschaftsministerin. "Statt weniger, großer Zentralbetriebe in der Schlachtung ist es mir wichtig, zu schauen, was die kleinen brauchen", sagt Julia Klöckner von der CDU.
So viel Fleisch wird in Deutschland produziert
Im Jahr 2019 haben die gewerblichen Schlachtbetriebe in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen knapp 60 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde geschlachtet. Einschließlich des Geflügels erzeugten die Unternehmen insgesamt knapp 8,0 Millionen Tonnen Fleisch.
Quelle: Statistisches Bundesamt
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sank die erzeugte Fleischmenge damit gegenüber 2018 um 1,4 Prozent. Der Rückgang ergibt sich aus der geringeren Schweinefleischerzeugung, die um 3 Prozent zurückging. Die Produktion von Rind- und Geflügelfleisch hingegen ist gegenüber dem Vorjahr gestiegen.
Betrachtet man die Entwicklung der Fleischmengen über die vergangenen zehn Jahre, zeigt sich insbesondere beim Geflügelfleisch eine deutliche Veränderung: Von 2009 bis 2019 ist die Menge an erzeugtem Geflügelfleisch um 22 Prozent gestiegen, während die Menge an Schweine- und Rindfleisch – mit leichten Schwankungen in einzelnen Jahren – etwa auf dem gleichen Niveau geblieben ist.
Friedrich Ostendorff ist gelernter Bauer, er bewirtschaftet 80 Hektar Fläche im Ökolandbau und hält unter anderem Schweine. Ostendorff ist auch agrarpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion und Co-Autor des fünfseitigen Konzepts, das unserer Redaktion exklusiv vorlag. "Schlachtung und Fleischverarbeitung haben sich zu einer Industrie entwickelt, die vor der Corona-Pandemie weit außerhalb des Radars der Öffentlichkeit lag", sagt Ostendorff. "Die Arbeits- und Wohnbedingungen für die Beschäftigten sind katastrophal und Tiere leiden", fasst Ostendorff zusammen.
Das Geschehen im Schlachtgewerbe konzentriert sich auf zehn Unternehmen
Nach Zahlen des Bundeslandwirtschaftsministeriums gab es 2019 in Deutschland 317 Schlachtbetriebe (ohne Geflügel) mit mehr als 20 Beschäftigten. Mehr als 55 Millionen Schweine wurden verarbeitet, dabei konzentriert sich das Geschehen auf lediglich zehn Unternehmen – sie schlachten rund 80 Prozent der Tiere. Die größten Betriebe finden sich in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, weitere große Schlachthöfe stehen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Bayern.
Die Grünen gehen mit den Großen der Branche hart ins Gericht. Sie beklagen miserable Arbeits- und Wohnbedingungen sowie Verstöße gegen Arbeitsschutzstandards, Hygieneauflagen und Seuchenschutzmaßnahmen. Die bestehenden Strukturen sollten deshalb "zugunsten kleiner und mittelständischer Unternehmen verändert werden", fordert Ostendorff zusammen mit agrarpolitischen Sprecherinnen und Sprechern grüner Landesverbände.
Eine Kernforderung des fünfseitigen Papiers ist, die bestehende Gebührenordnung umzustellen. Denn während in industriellen Schlachtkonzernen amtliche Veterinäre kontinuierlich vor Ort sind, entstehen kleineren Betrieben durch Anfahrtskosten und geringere Stückzahlen deutlich höhere Kontrollgebühren. Eine Einheitsabgabe pro geschlachtetem Tier würde hier für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen.
Alternative Schlachtmethoden sollen das Leiden der Tiere mildern
Darüber hinaus spricht sich die Partei für den Ausbau sogenannter alternativer Schlachtmethoden aus, zu denen unter anderem die Weideschlachtung zählt. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Rückkehr zu kleineren Schlachtstätten und Metzgereien. Mindestens 40 Prozent der Schlachtungen sollen mittelfristig, spätestens in zehn Jahren, in kleinen und mittelständischen Betriebsstrukturen stattfinden, nennen die Grünen als Ziel der Dezentralisierung.
Beim Bundesverband der Regionalbewegung rennen die Grünen damit offene Türen ein. Die Dachorganisation der Regionalvermarkter fordert nicht erst seit dem Fall Tönnies eine Reform der Ernährungswirtschaft. "Wenn wir ernsthaft die Strukturen erhalten wollen, die das Wohl von Mensch, Tier und Klima in den Vordergrund stellen, müssen regionale Wirtschaftskreisläufe mit dezentralen Strukturen sowohl Teil einer zukünftigen Lebensmittel- als auch Klimapolitik sein", sagt der Vorsitzende Heiner Sindel. Ostendorff sieht das genauso. "Fleischbetriebe sollten wir daran messen, ob sie regional und im Verbraucherinteresse agieren", sagt er.
Regionale Schlachthöfe und Metzger sollen gefördert werden
Die Regierung will "Schlachthöfe und Metzger, die regional vor Ort sind, erhalten und fördern", betont Ministerin Klöckner auf Anfrage. Dezentralität bedeute kürzere Transportzeiten und damit mehr Tierwohl. "Deshalb haben wir bei dem neuen Gesetz darauf geachtet, dass es Ausnahmen für kleine und mittlere Handwerksbetriebe gibt", erklärt die CDU-Politikerin. Im Übrigen gebe es Förderprogramme. "Auch die Weideschlachtung unterstützen wir", sagt Klöckner. Doch gleichzeitig dämpft sie zu hohe Erwartungen: "Realistischerweise müssen wir alle sehen, dass der Bedarf an Fleischerzeugnissen für uns Verbraucher dadurch allein nicht gedeckt werden kann und wird."
Will Tönnies die neuen Regeln unterlaufen?
Tönnies, die Nummer eins in Deutschland, schlachtet nach der Zwangspause wegen einer Vielzahl von Corona-Infizierten am Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück wieder mehr Schweine, wie ein Konzernsprecher der Nachrichtenagentur dpa sagte. Das Unternehmen hat zudem 15 Tochtergesellschaften gegründet. Kritiker mutmaßen, Tönnies wolle das Gesetz von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) umgehen, wonach Schlachtbetriebe mit 50 Beschäftigten und mehr ab 2012 keine Werkvertragsmitarbeiter mehr beschäftigen dürfen. Der Konzern weist das zurück und spricht von einer vorsorglichen Gründung.
Ostendorff hingegen warnt: "Industrielle Großbetriebe werden durch zahlreiche rechtliche Ausgründungen nicht zu Handwerksbetrieben", sagt er und betont: "Eine Verwässerung der Gesetzesinitiative von Hubertus Heil darf es unter keinen Umständen geben."
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