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Exklusiv: Ex-Kommissar Verheugen rechnet mit Fehlern der EU ab

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Ex-Kommissar Verheugen rechnet mit Fehlern der EU ab

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    „Wir sollten eine Politik betreiben, die auf den Abbau von Spannungen und im Ergebnis auf den Abbau von Sanktionen abzielt“, sagt der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen.
    „Wir sollten eine Politik betreiben, die auf den Abbau von Spannungen und im Ergebnis auf den Abbau von Sanktionen abzielt“, sagt der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen. Foto: Grzegorz Momot, dpa

    Herr Verheugen, Sie waren früher Erweiterungskommissar. Der EU-Türkei-Gipfel hat den Eindruck erweckt, dass Ankara noch eine Chance auf die EU-Mitgliedschaft hat. Gibt es diese Perspektive wirklich noch?

    Günter Verheugen: Es ist höchste Zeit, dass man wieder zivilisiert miteinander redet und nicht mit Schaum vor dem Mund übereinander. Man konnte von diesem Gipfel keine vollkommen neue Türkei-Politik erwarten. Aber die Erkenntnis, dass wir uns wirklich gegenseitig brauchen, ist ein wichtiges Ziel.

    Aber es hat doch an der türkischen Staatsführung gelegen, dass die Beziehungen nicht besser wurden.

    Verheugen: Das ist verkürzt und deswegen auch falsch. Das Land war auf einem sehr guten Weg mit schnellen und weitreichenden Reformen. Aber die Entwicklung wurde verlangsamt und schließlich abgebrochen, als sich die Politik der EU geändert hat. Die frühere Helsinki-Strategie war positiv und bestand darin, der Türkei den Weg in die Gemeinschaft zu ebnen. Heute versucht man alles, um den Beitritt zu verhindern.

    Sollten die Verhandlungen nicht ehrlicherweise abgebrochen werden?

    Verheugen: Der einzige Grund, warum dieser Schlussstrich nicht gezogen wird, besteht darin, dass niemand die Verantwortung für die Konsequenzen übernehmen will. Natürlich kann man die innenpolitische Entwicklung der Türkei nicht gutheißen. Da gibt es nichts, was man schönreden dürfte. Aber das ist auch eine Folge des Versagens der EU, die viele Möglichkeiten ungenutzt gelassen hat, um die weiteren rechtsstaatlichen Reformen des Landes zu unterstützen. Eine klare und verlässliche Beitrittsperspektive wurde regelrecht abgeschafft – und zwar von der EU. Das hat zu einem Erlahmen der Bemühungen Ankaras geführt. Denn warum sollte die dortige Regierung etwas erfüllen, was die EU fordert, wenn es am Ende doch keinen Beitritt gibt?

    Gibt es einen Weg aus dem Dilemma?

    Verheugen: Es geht nicht darum, die aktuelle Türkei in die EU zu holen. Wir wollen eine demokratische, rechtsstaatliche, verlässliche Türkei als Partner und Mitglied haben. Das ist das langfristige Ziel. Um die Probleme der Zukunft zu meistern, brauchen die Europäer die Türkei. Und die Regierung in Ankara muss erkennen, dass sie ihr Land weder sozial noch wirtschaftlich reformieren kann, ohne Partner der EU zu sein.

    Das gilt langfristig, aber nicht für die heutige Türkei?

    Verheugen: Natürlich. Ich rede nicht über das Land, wie es heute ist. Wir müssen die Schritte tun, die dazu führen, dass die Türkei sich verändert und dadurch beitrittsfähig wird. Das erreichen wir aber nicht dadurch, dass wir Ankara ständig sagen: Die EU will euch nicht, egal, wie die Lage ist.

    Die Beziehungen der EU zu Russland sind auf einem Tiefpunkt angekommen. Wie kommt man da wieder raus?

    Verheugen: Ich habe noch das Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor mir, der im September 2001 vor dem Bundestag gesprochen hat – und für sein Kooperationsangebot breiten Applaus bekam. Heute haben wir eine Situation, in der beide Seiten sich gegenseitig diffamieren. Niemand darf das wollen. Wir haben langfristige, gemeinsame Herausforderungen: Frieden und Sicherheit, Einsatz gegen den Terrorismus, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Kampf gegen den Klimawandel. Daran müssen wir miteinander arbeiten, ob uns der andere passt oder nicht.

    Nun hat sich, so argumentiert man in Brüssel, Moskau ja einiges geleistet. Die Beschuldigungen wegen des Nervengas-Anschlags sind ja deutlich.

    Verheugen: Die Argumentation im Fall Skripal erinnert mich ein bisschen an eine Urteilsverkündung nach dem Motto „Die Tat war dem Beschuldigten nicht nachzuweisen, aber es war ihm zuzutrauen.“ Die Haltung, dass Putin und die Russen im Zweifel für alles verantwortlich sind, ist eine Vergiftung des Denkens, die aufhören muss. Gerade wir sollten uns an Fakten halten.

    Die EU steckt in einer Zwickmühle: Die USA setzen sich von Europa ab, Russland attackiert die EU. Das wäre ja eigentlich eine Chance für eine Besserung der Beziehungen, oder?

    Verheugen: Deutschland und die EU sind gut beraten, die Partnerschaft mit den USA nicht aufzugeben. Aber wir können doch das Bündnis mit den Vereinigten Staaten aufrechterhalten und gleichzeitig in den wichtigen Fragen der Gegenwart mit Moskau kooperieren.

    Müssen die Sanktionen gegen Russland fortgesetzt, vielleicht sogar verschärft werden? Sollte Gerhard Schröder als Aufsichtsratschef des Energiekonzerns Rosneft einbezogen werden?

    Verheugen: Generell sollten Sanktionen faktenbasiert sein und nicht auf Vermutungen aufbauen. Schröder wiederum ist nicht der Einzige, der für eine konstruktive energiepolitische Zusammenarbeit eintritt. Insgesamt gesehen kann ich nicht erkennen, dass die EU-Sanktionen die gewünschte Wirkung haben werden. Wir sollten eine Politik betreiben, die auf den Abbau von Spannungen und im Ergebnis auch auf den Abbau von Sanktionen abzielt.

    Die EU-Kommission hat auf Betreiben ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker dessen Vertrauten Martin Selmayr binnen weniger Minuten gleich zwei Mal befördert, damit er als Generalsekretär den wichtigsten Job übernehmen kann. Das sorgt in Brüssel für heftigen Wirbel. Kann man eine solche Selbstherrlichkeit in zentralen Personalfragen einfach so hinnehmen?

    Verheugen: Diese Entscheidung zeigt die Politisierung der Europäischen Kommission – aber im negativen Sinn. Die Regeln sind möglicherweise formal nicht verletzt worden, aber sie wurden in einer Weise gedehnt, dass einem schwindelig werden kann. Die Kommission soll überparteilich und unabhängig sein, nun hat sich der europäische Gesetzgeber als ein sehr normales politisches Gremium entlarvt, was ich für fatal halte. Dieser Vorfall hätte unter anderen Umständen das Potenzial, eine Kommission regelrecht zu sprengen.

    Kann der Vorfall für Juncker gefährlich werden?

    Verheugen: Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Juncker wird sich über die Amtszeit retten, weil es niemanden gibt, der ein Interesse an einer Krise in den europäischen Institutionen haben kann.

    Zur Person: Günter Verheugen, 73, begann seine politische Laufbahn in der FDP und trat später zur SPD über. 1999 ging er als EU-Kommissar für Erweiterungspolitik nach Brüssel. 2004 übernahm er in der Kommission das Ressort Industriepolitik (bis 2010). Derzeit arbeitet Verheugen als Honorarprofessor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

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