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Europa: Wie Seehofers Freunde im Asylstreit zu Merkel wechselten

Europa

Wie Seehofers Freunde im Asylstreit zu Merkel wechselten

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    Österreichs Kanzler Sebastian Kurz mit Tschechiens Regierungschef Andrej Babis und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.
    Österreichs Kanzler Sebastian Kurz mit Tschechiens Regierungschef Andrej Babis und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Foto: Szilard Voros, Imago

    Erstaunt und irritiert registrieren Deutschlands Partner in Europa die eskalierende Regierungskrise in Berlin. Schließlich galt das größte Land der Union über Jahrzehnte hinweg als ein Hort politischer Stabilität. Die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs steht auf der Seite Merkels. Darunter sogar einstige Unterstützer Seehofers.

    Für einen kurzen Augenblick schien die Kanzlerin am Wochenende entzaubert. Mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei widersprachen die Regierungschefs von gleich drei EU-Nachbarn der Darstellung, sie hätten Vereinbarungen über die Rücknahme von abgewiesenen Flüchtlingen geschlossen. Die Aufregung dauerte nur kurz, weil Angela Merkel gar nicht von „Vereinbarungen“, sondern lediglich von Absprachen gesprochen hatte. Und die gab es durchaus.

    Österreichs Regierungschefs Kurz unterstützt Dubliner Abkommen

    Der Protest aber steht für die Stimmung in den europäischen Mitgliedstaaten: Niemand will sich – zur Vorsicht – in die bundesdeutsche Regierungskrise einmischen. Nicht einmal Sebastian Kurz, österreichischer Kanzler und seit Sonntag auch für sechs Monate Ratsvorsitzender der Gemeinschaft.

    Zwar hatte der junge Österreicher noch vor kurzem bei einem Besuch in München den engen Schulterschluss mit CSU-Ministerpräsident Markus Söder betont und dessen Linie „Es kann nicht sein, dass Flüchtlinge quer durch Europa ziehen“ geteilt. Das klang beim EU-Gipfel Ende vergangener Woche allerdings schon deutlich zurückhaltender. Dort stellte Kurz sich überraschend auf die Seite des Dubliner Abkommens – „solange es nichts Besseres gibt“.

    Ein hochrangiger EU-Diplomat liefert eine Erklärung für den Seitenwechsel: „Kurz wird wohl gemerkt haben, dass Seehofers Plan, Ankommende zurückzuweisen, nur dazu führt, dass Österreich sie an der Backe hat – inklusive derer, die aus Italien kommen.“ Seiner Einschätzung nach liegt darin auch der Grund dafür, dass sich die osteuropäischen Staaten, die jede Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen, doch zu den Beschlüssen des EU-Gipfels bekannten. Von einem konsequenten Durchgreifen der deutschen oder bayerischen Grenzpolizei gegen bereits registrierte Migranten wären sie unmittelbar betroffen.

    Regierungschefs stellen sich hinter Merkel

    Ob Viktor Orbán (Ungarn), Peter Pellegrini (Slowakei) oder Andrej Babis (Tschechien) – plötzlich standen sie, die eher auf der scharfen Seehofer-Linie argumentiert hatten, beim Gipfel an der Seite der Kanzlerin, die eine europäische Lösung forderte. „Der gefundene Kompromiss befriedigt jeden, weil er dazu führt, dass Flüchtlinge erst gar nicht in die EU kommen – es sei denn, ihr Asylanspruch wurde geprüft“, hieß es aus der der EU-Kommission.

    In einer neuen Folge unseres Podcasts "Bayern-Versteher" widmen wir uns dem Zoff in der Union. Hier können Sie reinhören:

    Merkel, so betonten bereits unmittelbar nach der heißen Nacht am Freitagmorgen Diplomaten, habe „mit ihren Appellen für einen gemeinsamen Weg jeden nationalen Alleingang obsolet gemacht“. Und damit Seehofers Vorhaben regelrecht ausgehebelt.

    Seehofer auf europäischer Ebene kaum präsent

    Chronologie: Der Asyl-Streit zwischen CSU und CDU

    31. August 2015: "Wir schaffen das", sagt Merkel über die Bewältigung der Flüchtlingszahlen. Kurz darauf schließt sie nicht die Grenzen, als Schutzsuchende massenweise von Ungarn über Österreich nach Deutschland einreisen. Seehofer nennt das einen Fehler.

    9. Oktober 2015: Der CSU-Chef droht mit einer Verfassungsklage, falls der Bund den Flüchtlingszuzug nicht eindämmen sollte. Nach einer Aussprache mit der CDU legt er das Vorhaben kurz darauf ad acta.

    20. November 2015: Auf dem CSU-Parteitag in München kritisiert Seehofer die Kanzlerin auf offener Bühne, während sie neben ihm steht.

    3. Januar 2016: Seehofer fordert erstmals eine konkrete Obergrenze: maximal 200.000 neue Flüchtlinge pro Jahr. Merkel ist strikt dagegen.

    9. Februar 2016: Seehofer nennt die offenen Grenzen für Flüchtlinge im Herbst 2015 "eine Herrschaft des Unrechts".

    4./5. November 2016: Merkel nimmt erstmals nicht an einem CSU-Parteitag teil.

    20. November 2016: Merkel kündigt ihre vierte Kanzlerkandidatur an.

    24. November 2016: Der CSU-Chef macht eine Begrenzung der Zuwanderung zur Bedingung für eine erneute Regierungsbeteiligung.

    6. Februar 2017: Seehofer erklärt offiziell, die CSU unterstütze Merkel bei der Bundestagswahl. Zuvor war lange ein eigener Kanzlerkandidat nicht ausgeschlossen.

    1. April 2017: In einem Interview bezeichnet Seehofer Merkel als "unser größter Trumpf". Nur mit ihr sei die Wahl zu gewinnen.

    3. Juli 2017: Eine Obergrenze für Flüchtlinge kommt im Wahlprogramm der Union nicht vor. Im gesonderten CSU-Programm "Bayernplan" wird sie aber festgehalten. Seehofer macht sie erneut zur Koalitionsbedingung.

    20. August 2017: In einem Interview nennt Seehofer eine Obergrenze nicht mehr ausdrücklich als Bedingung für eine Koalition nach der Wahl.

    24. September 2017: Trotz Verlusten gewinnt die Union die Bundestagswahl, doch die CSU stürzt auf für ihre Verhältnisse katastrophale 38,8 Prozent ab. Fehler der Union im Wahlkampf sieht Merkel nicht.

    8. Oktober 2017: Vor anstehenden Gesprächen mit anderen Parteien über mögliche Koalitionen verständigen sich CDU und CSU auf das Ziel, maximal 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen. Ausnahmen sind möglich. Das Wort "Obergrenze" taucht in der Einigung nicht auf.

    15. Dezember 2017: Merkel ist wieder auf dem CSU-Parteitag zu Gast. Die Schwesterparteien demonstrieren Geschlossenheit.

    12. März 2018: Union und SPD unterschreiben ihren Koalitionsvertrag. Seehofer wird als Innenminister in Merkels viertem Kabinett zuständig für Migration und Flüchtlinge. Er kündigt einen "Masterplan für schnellere Asylverfahren und konsequentere Abschiebungen" an.

    15. März 2018: Seehofer sagt: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Die Kanzlerin grenzt sich von ihm ab.

    10. Juni 2018: In der ARD-Sendung "Anne Will" spricht sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegen die CSU-Forderung nach einer Zurückweisung bestimmter Asylbewerber an der deutschen Grenze aus. Sie wolle, dass Deutschland "nicht einseitig national" handle.

    11. Juni 2018: Seehofer verschiebt überraschend die für den Folgetag geplante Vorstellung seines Masterplans. Hintergrund sind Differenzen mit Merkel über die Zurückweisung von Flüchtlinge an der Grenze, einem wichtigen Punkt des Masterplans.

    12. Juni 2018: Die CSU beharrt auf ihrer Forderung – und setzt auf eine Konfrontation mit der Kanzlerin: "Wir setzen den Punkt durch", sagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Unterstützung bekommt Seehofer derweil auch aus den Reihen der CDU. Das wird auch in einer gemeinsamen Sitzung der Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU deutlich.

    13. Juni 2018: Ein abendliches Krisentreffen zwischen Merkel und Seehofer endet ohne Annäherung. Merkel will zwei Wochen Zeit gewinnen und bis zum EU-Gipfel Ende Juni bilaterale Vereinbarungen mit anderen Staaten treffen. Die CSU lehnt das ab: Sie will umgehend auf nationaler Ebene handeln, bevor es mögliche europäische Schritte gibt.

    14. Juni 2018: Der Konflikt eskaliert: Eine laufende Bundestagsdebatte muss unterbrochen werden, die Abgeordneten von CDU und CSU beraten in getrennten Sitzungen mehr als vier Stunden lang über den Asylstreit. Seehofer droht Merkel mit einem "Alleingang". Eine Entlassung des Innenministers, ein Bruch der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU oder gar der Regierungskoalition – zwischenzeitlich erscheinen viele Szenarien möglich.

    15. Juni 2018: Der Bundestag befasst sich in einer aktuellen Stunde mit der Flüchtlingspolitik. Die Opposition kritisiert die Union dabei wegen des Asylstreits scharf. Derweil beharren CDU und CSU auf ihren Positionen.

    16. Juni 2018: CDU-Politiker warnen die CSU eindringlich vor einem Bruch der Union und fordern Kompromissbereitschaft.

    17. Juni 2018: Eine Annäherung zeichnet sich über das Wochenende nicht ab – die Fronten bleiben verhärtet.

    18. Juni 2018: Der Streit wird vertagt. CDU und CSU einigen sich darauf, dass Merkel zwei Wochen Zeit bekommt, um in der Flüchtlingsfrage bilaterale Abmachungen mit anderen EU-Staaten zu erreichen. Erst dann soll über mögliche Zurückweisungen an der Grenze entschieden werden, es gebe keinen "Automatismus", hob Merkel hervor. Umgehend zurückgewiesen werden sollen aber Flüchtlinge mit Einreise- oder Aufenthaltsverbot. Zugleich droht Merkel Seehofer am Montag mit ihrer "Richtlinienkompetenz" als Kanzlerin. (dpa/AFP)

    Allzu groß war das Ansehen des CSU-Vorsitzenden in der EU-Metropole ohnehin nicht. Horst Seehofer hat über Jahre Brüssel mit Nichtbeachtung gestraft und ließ sich auch seit seiner Amtsübernahme als Bundesinnenminister bei den wichtigen Treffen mit den europäischen Amtskollegen vertreten.

    Ihm fehlt, so bestätigt ein deutscher EU-Politiker, „ein Netzwerk, um sich auch auf europäischer Ebene Gehör zu verschaffen“. Er habe „einfach kein Gewicht auf dieser Ebene“. Merkel dagegen agierte nach Auffassung vieler Amtskollegen „durchaus geschickt“, wie es einer der Regierungschefs nach dem Gipfel ausdrückte. Sie sei eben ganz die europäisch denkende Kanzlerin gewesen. „Auch wenn der Weg, den die EU jetzt gehen will, schwer sein wird – es ist immerhin ein Weg.“

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