Zwei Tage nach den geplatzten Jamaika-Sondierungen für ein deutsches Regierungsbündnis hat sich die EU von dem Schock wieder erholt. "Europa wird nicht pausieren", gab sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker optimistisch. Er werde die Reformen der Union vorantreiben. Das ist allerdings leichter gesagt als getan.
Denn in der Praxis dürfte die deutsche Stimme auf europäischer Ebene deutlich zurückhaltender ausfallen, obwohl die amtierende Kanzlerin Angela Merkel eigentlich schalten und walten könnte wie bisher auch. "Eine geschäftsführende Bundesregierung besitzt dieselben Befugnisse wie eine richtige Regierung", sagte Matthias Kullas vom Centrum für europäische Politik, Cep, in Freiburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter unserer Zeitung. "Es ist jedoch gängige Praxis, dass eine geschäftsführende Regierung diese Möglichkeiten nicht nutzt", fügt er hinzu. "Weitreichende Entscheidungen, die eine zukünftige Regierung binden würden, werden in der Regel nicht gefasst."
In den nächsten Wochen stehen Gipfeltreffen an
Schon beim Herbstgipfel der Staats- und Regierungschefs hat Kanzlerin Angela Merkel ihre Kollegen um Rücksicht auf die deutschen Koalitionsverhandlungen gebeten. "Die Verhandlungen über die Zukunft Europas sind verschoben", meint auch EU-Experte Guntram Wolff. Das lähmt die EU in einer entscheidenden Phase. In den nächsten Wochen stehen wichtige Gipfeltreffen zunächst mit den osteuropäischen Partnern und anschließend mit Afrika an – ein Lieblingsthema Merkels.
Im Dezember wollten die 28 Staats- und Regierungschefs der EU den Fahrplan für die Reform der Eurozone voranbringen. Dabei geht es um grundlegende Akzente von einem eigenen Budget bis hin zu einem hauptamtlichen Euro-Finanzminister.
Bisher war ein eigener Euro-Gipfel nach den Gesprächen im Kreis der 28 Staatenlenker geplant. Nun werden bereits Spekulationen laut, diese Begegnung der Währungsunion abzusagen, da die deutsche Regierungschefin sicherlich keine Zusagen machen kann.
Die Bundesrepublik fällt als Motor der Entwicklung aus
Außerdem wollten die verbliebenen 27 EU-Chefs entscheiden, ob die Fortschritte beim Brexit weit genug gereift sind, um in die Phase zwei, der Gestaltung der künftigen Beziehungen, einzutreten. Ohne deutsche Stimme mit Gewicht und vor allem Mandat des Bundestages dürfte dies kaum möglich sein.
Doch den eigentlichen Schaden durch eine späte Regierungsbildung in Berlin sehen Beobachter noch an anderer Stelle. Schon jetzt sei es für Deutschland schwierig, "ohne Gesichtsverlust die Reformvorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron länger zu ignorieren", betont der außenpolitische Experte der christdemokratischen EVP-Mehrheitsfraktion, Elmar Brok. Mehr noch: Wenn die Bundesrepublik als Motor der Entwicklung ausfällt, werden andere nach vorne drängen.
Macron und Juncker haben bereits ihre Idee für eine zukünftige EU präsentiert. Weitere dürften folgen und das von Berlin hinterlassene Machtvakuum ausnutzen. Eine längere, gar monatelange Regierungskrise im größten und wichtigsten EU-Land würde, so wird in Brüssel spekuliert, die Gemeinschaft nicht nur lähmen, sondern ausgerechnet umstrittenen Staatsführern wie Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan das Feld überlassen, denen eine gelähmte Union nichts entgegenzusetzen hat.
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