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Frankreich: Ein Jahr "Gelbwesten"-Proteste: Sie sind gekommen, um zu bleiben

Frankreich

Ein Jahr "Gelbwesten"-Proteste: Sie sind gekommen, um zu bleiben

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    Mehrmals kam es am Rande der Demonstrationen zu Ausschreitungen, wie hier auf der Pariser Prachtstraße Champs-Élysées. 
    Mehrmals kam es am Rande der Demonstrationen zu Ausschreitungen, wie hier auf der Pariser Prachtstraße Champs-Élysées.  Foto: Michel Euler, ap/dpa

    "Haben Sie etwa gedacht, wir wären nicht mehr da?", fragt Simone Diraud. "Nur weil das Fernsehen nicht mehr über uns berichtet? Aber nein! Wir bleiben, bis sich etwas ändert." Damit das klar ist.

    Simone Diraud, zarte Statur, ergrautes Haar, gelbe Warnweste über der dunklen Windjacke, steht an einem Herbstsamstag neben Mitstreitern vor dem Wirtschafts- und Finanzministerium in Paris und lächelt. "Für mich spielt es keine Rolle, ob wir 200.000 sind wie am Anfang, 200 oder 20." Auf den Rücken hat sich die 64-Jährige ein selbst gebasteltes Plakat mit Schlagworten geklebt, die sie wichtig findet. "Mindestlohn – Mehrheitswahlrecht – Anerkennung leerer Stimmzettel", steht darauf. Und: "Was genug ist, ist genug."

    Simone Diraud sagt: „Wir bleiben, bis sich etwas ändert.“
    Simone Diraud sagt: „Wir bleiben, bis sich etwas ändert.“ Foto: Birgit Holzer

    Dieser entfesselte Kapitalismus – schrecklich! Und dann seien die französischen Politiker allesamt "Verräter", schimpft die Rentnerin aus der Vorstadt Romainville, die früher als Zahnarzthelferin gearbeitet hat. Ihr sanftmütiges Lächeln scheint nicht so recht zu ihren wütenden Worten zu passen. "Ich bin hier, um zu zeigen, dass wir uns das Maul nicht stopfen lassen."

    "Gelbwesten" blockierten Kreisverkehre im ganzen Land

    Simone Diraud gehört zum verbliebenen harten Kern der französischen "Gelbwesten"-Bewegung, die sich vor einem Jahr formierte und das Land über mehrere Monate hinweg in Atem hielt. Bevor die Anhänger dazu übergingen, in den Städten zu demonstrieren, blockierten sie Kreisverkehre im ganzen Land. So protestierten sie gegen hohe Lebenshaltungskosten und vor allem gegen die steigenden Preise für Benzin und Diesel, welche die Bewohner der entlegenen Regionen besonders stark zu spüren bekommen.

    Bald gewann die Bewegung an Zulauf, vor allem über die sozialen Netzwerke – obwohl es keinen klaren Anführer gab. Und doch war da plötzlich ein breiter Widerstand gegen die Regierung, speziell gegen Präsident Emmanuel Macron. Die Forderungen reichten von der Einführung nationaler Volksabstimmungen über eine Rückkehr zur von Macron abgeschafften Reichensteuer bis zu Neuwahlen.

    Mehrmals kam es zu Ausschreitungen am Rande der Demonstrationen. Krawallmacher mischten sich unter die Teilnehmer, um Fensterscheiben einzuschlagen, Zeitungskioske oder Motorroller anzuzünden und sich brutale Kämpfe mit den Sicherheitskräften zu liefern. Die reagierten scharf.

    Angesichts der bisher größten Krise seiner Amtszeit musste der Staatschef Stück für Stück nachgeben. Zuerst wurden die geplanten Kraftstofferhöhungen ausgesetzt, dann bot er weitere Zugeständnisse wie geringere Abgaben auf Renten bis 2000 Euro und eine indirekte Erhöhung des Mindestlohns an. Durch die Mehrkosten in Höhe von über zehn Milliarden Euro nahm Macron in Kauf, dass das Defizit höher ausfiel als gegenüber Brüssel versprochen. Schließlich ließ er Bürgerdebatten im ganzen Land organisieren.

    "Gelbwesten": An diesem Samstag eskalierte die Situation wie seit langem nicht

    Doch daran beteiligten sich vor allem seine Anhänger, während sich die "Gelbwesten" nicht vereinnahmen lassen wollten. Jene, die am politischen System teilhaben wollten und bei den Europawahlen antraten, wurden heftig attackiert, wie die Krankenpflegerin Ingrid Levavasseur. Infolge des Drucks verzichtete die 32-Jährige auf eine Kandidatur und demonstriert auch nicht mehr. Bei den Gemeinderatswahlen im März tritt sie an, aber nicht unter dem Siegel der "Gelbwesten".

    Wenn auch dezimiert, kommen diese weiterhin jede Woche zusammen. Halten Fahnen mit Aufschriften hoch wie "Die Hoffnung ist gelb". Skandieren Reime wie "Macron, Démission!" ("Macron, Rücktritt!") und pfeifen die Polizisten aus. An diesem Samstag eskalierte die Situation wie seit langem nicht. Vor allem rund um den "Place d’Italie" im Südosten der Stadt kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. Die Fensterscheiben einer Bank wurden zerschmettert, Elektroroller angezündet und Autos demoliert. Der Polizeipräfekt von Paris, Didier Lallement, verbot einen angemeldeten Demonstrationszug mit Verweis auf "skandalöse Zerstörungen" und verletzte Polizisten.

    Im Nordwesten blockierten mehrere Dutzend Menschen zeitweise die Ringautobahn. Auch im Zentrum wurden Bushaltestellen verwüstet, Vitrinen zerschmettert, Barrikaden aufgebaut. Insgesamt nahm die Polizei 147 Personen fest. Nach Angaben des Innenministeriums demonstrierten in Paris 4700 Menschen und landesweit 28.000, während die "Gelbwesten"-Bewegung selbst von insgesamt 40.000 Teilnehmern sprach.

    Geograf: Eliten entfremden sich von der unteren Mittelschicht

    Buchautor Christophe Huilluy glaubt sogar: „Wir werden sie noch 100 Jahre lang haben.“
    Buchautor Christophe Huilluy glaubt sogar: „Wir werden sie noch 100 Jahre lang haben.“ Foto: Philippe Matsas, Flammarion

    Die Zeit der Widerständler sei keineswegs vorbei, warnt der französische Geograf Christophe Guilluy: "Wir werden sie noch 100 Jahre lang haben." Er glaubt, die Ursachen des Problems liegen tief. Beschrieben hat er sie bereits 2014 in seinem Buch "Das periphere Frankreich. Wie wir unsere Arbeiterklasse opfern". Guilluy analysiert darin die zunehmende Entfremdung der Eliten aus Politik und Wirtschaft von der unteren Mittelschicht, die die Mehrheit stelle und doch unsichtbar sei – oder es zumindest bis November 2018 war.

    Demnach wächst die Kluft zwischen den Globalisierungsgewinnern und -verlierern, zwischen den Bewohnern der dynamischen Metropolregionen und jenen der entlegenen Orte, die wirtschaftlich und damit auch politisch, sozial und kulturell ausgegrenzt werden. Dort schließen Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Dienste und Fabriken, was zu Massenarbeitslosigkeit und Armut führt – denn alternative Jobs gibt es kaum. Ein Umzug ist keine Option für jene, die in ihren eigenen, aber relativ wertlosen Häusern auf dem Land wohnen.

    In der Tat: Wer durch Frankreichs Dörfer fährt, begegnet oft keiner Menschenseele, sieht geschlossene Geschäfte und Fensterläden. Die Zentren kleiner Städte veröden. Den Sockel einer Gesellschaft derart auszuhöhlen, sei gefährlich, warnt Guilluy. Der 55-Jährige gilt als untypischer Forscher. Anders als die meisten französischen Intellektuellen, die die öffentlichen Debatten bestimmen, kommt er nicht aus einem großbürgerlichen Milieu, sondern aus dem Pariser Vorort Montreuil, der heute angesagt ist, aber lange als verrufen galt. So erscheint Guilluy als legitimer Fürsprecher der Ausgegrenzten, der nicht nur den aufkommenden Protest kommen sah, sondern auch die Erosion des politischen Systems und den Niedergang der einstigen Volksparteien.

    In Frankreich gibt es die Pole Macron und Le Pen

    Anstelle des Zweikampfs zwischen Sozialisten und Republikanern haben sich zwei neue Gegenpole gebildet, repräsentiert von Macron auf der einen und der Rechtspopulistin Marine Le Pen auf der anderen Seite. Hier das "Frankreich der Metropolen", das liberal denkt und für grenzenlose Mobilität eintritt – dort das "periphere Frankreich", das auf Protektionismus und den Erhalt eines starken, schützenden Staates setzt.

    Dessen Vertreter seien die "Gelbwesten", so Guilluy: Arbeiter, Angestellte oder kleine Selbstständige, die den sozialen Abstieg fürchten. In den Demonstrationszügen sind auch viele Rentner zu sehen, darunter Josiane Rivet, die seit einem Jahr kaum einen Protest-Samstag auslässt. 42 Jahre habe sie für ein Versicherungsunternehmen gearbeitet, erzählt sie – um heute eine Mini-Pension zu erhalten. "Seit 2013 sind die Renten nicht mehr gestiegen, während sich die Reichen alles in die Taschen stecken", klagt sie. "Wir werden ausgepresst wie die Zitronen! Und deshalb tragen wir Gelb."

    Inzwischen hat Guilluy ein weiteres Buch zum Thema veröffentlicht – mit dem englischen Titel "No Society" ("Keine Gesellschaft") nach einem Ausspruch der früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Seine These: Eine Gesellschaft, die ihre untere Mittelschicht an die Ränder drängt, zerbricht. Eine Entwicklung, die nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa stattfinde. "Die ,Gelbwesten‘ wollen wirtschaftlich integriert sein", so Guilluy. "Sie wollen Arbeit, ein iPhone und ein Netflix-Abo." Um gehört und gesehen zu werden, drängten sie von der Peripherie in die Metropolen, vor allem in Frankreichs Machtzentrum Paris. Ihre Demonstrationen meldeten sie nicht an: Sie kamen ungefragt.

    Wie viel Erfolg haben die "Gelbwesten"?

    Diejenigen, die immer noch Samstag für Samstag demonstrieren, sind entschlossener denn je. Andreu Sole ist einer von ihnen.
    Diejenigen, die immer noch Samstag für Samstag demonstrieren, sind entschlossener denn je. Andreu Sole ist einer von ihnen. Foto: Birgit Holzer

    Doch hat man ihnen dort wirklich zugehört? Priscillia Ludosky, die durch einen Protestaufruf in den sozialen Netzwerken zu den Mitbegründern und einer der bekanntesten Figuren der "Gelbwesten"-Bewegung wurde, klingt heute enttäuscht. "Ich würde nicht sagen, dass es ein Erfolg war, aber es hat vieles geändert", sagt die 34-Jährige. "Eine große Bewegung der Solidarität entstand, die es so vorher nicht gab, weil wir zu sehr in unseren Alltagsproblemen gefangen waren." Es köchele weiter im ganzen Land. Ab 5. Dezember könnten sich die "Gelbwesten" mit den Gewerkschaften der Eisenbahner zusammentun. Diese planen massive Streiks im Widerstand gegen die geplante Reform der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Für ihre Kritiker führt sie genau in die Richtung, die die "Gelbwesten" anprangern: immer mehr Sozialabbau und Härten für die kleinen Leute.

    Die Regierung könne sich noch auf etwas gefasst machen, sagt Andreu Sole, der seit Monaten samstags in gelber Warnweste demonstriert: "Wir verhandeln nicht, solange es zu viele Arme und Arbeitslose in diesem Land gibt." Er wolle verhindern, dass seine Kinder und Enkel zu "modernen Sklaven" würden, die zwar einen Fernseher hätten, aber keinen festen Vertrag und keine echte Perspektive, sagt der 67-jährige Soziologe im Ruhestand.

    Er klingt so entschlossen wie Josiane Rivet, Simone Diraud und die anderen samstäglichen Mitstreiter. "Es gibt Sprinter und Marathonläufer", sagt Sole. "Und das hier ist ein Marathon." Den wolle er weiterlaufen. Wenn es sein muss, bis zum Umfallen.

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