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EU: Europa zwischen Visionen und Illusionen

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Europa zwischen Visionen und Illusionen

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    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (bei seiner Europarede in Aachen 2018): „Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein.“
    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (bei seiner Europarede in Aachen 2018): „Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein.“

    Es ist ein Schreiben à la Emmanuel Macron: ausdrucksstark, ambitioniert, ausschweifend. Der Franzose zieht große Linien und wagt den weiten Wurf – auch geografisch: In Zeitungen aller 28 EU-Mitgliedstaaten, übersetzt in den jeweiligen Sprachen, erschien das flammende Plädoyer des französischen Präsidenten für eine „Wiedergeburt“ Europas. Eindringlich appelliert er darin an alle Bürgerinnen und Bürger, sich an den EU-Wahlen Ende Mai zu beteiligen.

    Seine angebotenen Reformvorschläge reichen von einem „Überdenken“ des Schengen-Raums über einen EU-weiten Mindestlohn bis zu einer europäischen Überwachung der digitalen Plattformen. Die Lage sei kritisch: „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.“ Der Brexit sei ein Symbol für die gefährliche Tendenz zur nationalistischen Abschottung. Macron wandte sich zwar offiziell an die 500 Millionen EU-Bürger, doch es geht es ihm vor allem um die der Franzosen. Denn die Europawahlen im Mai werden für den von Protesten in die Defensive geratenen Präsidenten zum wichtigen Stimmungstest.

    Wie schon bei der Präsidentschaftswahl stilisiert sich Macron als Vertreter einer fortschrittlich-offenen Linie gegen jene der Nationalisten wie Viktor Orbán in Ungarn oder den italienischen Innenminister Matteo Salvini. „Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein“, schreibt er.

    Macron fordert eine auf allen Ebenen vertiefte Zusammenarbeit, ob bei der Verteidigung, mittels einer gemeinsamen Grenzpolizei oder einer europäischen Asylbehörde. Doch all das hat er bereits im September 2017 bei seiner Sorbonne-Rede gefordert. Viele feierten die Rede als historisch. Doch erreicht hat der junge Präsident wenig, abgesehen von einer Entsenderichtlinie und ersten Schritten auf dem Weg zu einer Reform der Eurozone.

    Auch Macrons erhoffte Unterstützung aus Berlin blieb an vielen Stellen aus. Zudem muss er sich selbst die Frage, ob Anspruch und Wirklichkeit zusammenpassen, gefallen lassen. So schlägt der Präsident, der gerne für Umweltschutz plädiert, die Gründung einer europäischen Klimabank vor. Seine Regierung schraubte jedoch ehrgeizigere Klimaziele zurück, ebenso den Ausbau erneuerbarer Energien. Macron fordert die Gründung einer europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie – während sein eigenes Presseteam regelmäßig Journalisten zu kontrollieren und einzuschüchtern versucht.

    Während Macron an seinem eigenen, aber auch an einem neuen Image für Europa arbeitet, wächst bei seinen größten Gegnern die Hoffnung, die Europäische Union ins Wanken zu bringen. Vor vier Jahren haben sich bereits sieben rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien im Europäischen Parlament zusammengefunden und bildeten eine Fraktion mit 37 Mitgliedern: die ENF – Europa der Nationen und der Freiheit.

    Im großen Rund der bisher 751 Europaabgeordneten blieb die Rechte eher kraftlos. Das könnte sich ändern. Rechtspopulisten sind inzwischen in nahezu jedem EU-Land ein Bestandteil der politischen Landschaft. In Italien, Österreich, Polen, Ungarn, der Slowakei, Dänemark und Finnland stellen oder unterstützen sie die Regierung. Das große Thema Migration, an dem beim Europa-Wahlkampf kaum ein Weg vorbeiführt, dürfte die Parteien nach oben spülen. Von bis zu 20 Prozent der Mandate ist die Rede.

    Da das Parlament wegen der ausscheidenden Briten auf 705 Volksvertreter schrumpft, verschieben sich die Gewichte. Der christdemokratische Spitzenkandidat, der CSU-Politiker Manfred Weber, hat ebenso wie sein sozialdemokratischer Kollege Frans Timmermans deshalb die Europawahl zu einem Entscheid über den Fortbestand Europas ausgerufen.

    Dennoch könnte 2019 zum Jahr der Rechten werden. Als potenzielle Partner von Geert Wilders und der Französin Marine Le Pen vom Rassemblement National, der österreichischen FPÖ und der italienischen Lega Nord könnten weitere hinzukommen, auch wenn der einzige nach diversen Spaltungen der AfD verbliebene Abgeordnete Jörg Meuthen der Fraktion „Europa für Freiheit und Demokratie“ angehört.

    „Ich glaube, die Rechten werden bei der nächsten Wahl sehr stark werden“, sagte der französische Europaabgeordnete Thierry Cornillet von den Liberalen, der mit Macrons Partei LREM sympathisiert, ohne ihr anzugehören. „Deshalb ist es wichtig, dass wir als die Moderaten und EU-Befürworter auch sehr stark werden.“ Zwar wäre eine erstarkte Rechte weit von einer Mehrheit im Parlament oder den wichtigen Ausschüssen entfernt. Aber sie könnte Beschlüsse blockieren, Vereinbarungen ausbremsen oder die Integration einfach sabotieren, heißt es in Brüssel. Das beträfe keineswegs nur Reizthemen wie Zuwanderung, sondern vor allem das erste Mammutvorhaben der nächsten Legislaturperiode: die Erstellung eines mehrjährigen Finanzrahmens für die sieben Jahre ab 2021. Denn ohne das Europäische Parlament und seine Zustimmung geht da gar nichts.

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