Läden dicht, Schulen geschlossen, Ausgangssperre: Knapp ein Jahr nach dem Ausbruch der Corona-Krise in Deutschland wächst der Druck auf die Politik, eine Öffnungsstrategie im Umgang mit der Pandemie zu entwickeln. Selbst in der Union gibt es inzwischen Bedenken, wie lange das Land den Lockdown noch durchhalten kann. „Ich glaube nicht, dass man die Menschen über das jetzige Maß hinaus weiter strapazieren kann“, sagt der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Georg Nüßlein unserer Redaktion. Er fordert dazu auf, „jetzt schnellstmöglich eine Anschlussstrategie zu entwickeln und dann auch umzusetzen“. Hier müssten die Regierungen in Bund und Land liefern. „Und wenn es ans Wiederöffnen geht, brauchen wir eine große Hygiene- und Schutzoffensive: medizinische Maskenpflicht bundesweit, Zugang mit Testpflicht.“
Nüßlein will erreichen, dass nicht immer nur allein auf die Inzidenzzahlen geschaut wird. „Es ist wegen der massiven Auswirkungen nicht verantwortbar, so lange einen flächendeckenden Lockdown zu verordnen, bis die Inzidenzzahl unter 50 oder unter 35 sinkt“, sagt er und bekräftigt: „Wenn nicht in den nächsten Wochen noch etwas passiert, was wir jetzt nicht vorhersehen können – also etwa eine massive Ausbreitung von mutierten Viren –, dann müssen wir spätestens ab Mitte Februar einen anderen Weg gehen als den bisherigen.“
Viola Priesemann fordert niedrigere Zielmarke für den Inzidenzwert
Dem widersprechen Experten. Die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann plädiert sogar für eine Sieben-Tage-Inzidenz von zehn Fällen als Zielmarke aus. „Es ist um ein Vielfaches leichter, die Fallzahlen unter Kontrolle zu halten, wenn sie niedrig sind, als wenn sie bereits hoch angestiegen sind“, sagt die Physikerin vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Sie spricht sich daher weiterhin für harte Lockdown-Maßnahmen aus.
Auch Christian Drosten, Chefvirologe der Charité in Berlin, warnt: „Wir sollten uns nicht zu sorglos hinstellen.“ Auch die Hoffnung, dass die Zahlen mit dem Beginn des Frühlings von alleine sinken, könnte trügerisch sein. Das Beispiel Spanien habe gezeigt, dass das verfrühte Ende eines Lockdowns auch bei warmem Wetter zu einem Rückschlag führen könne. „Man sollte nicht naiv in eine solche Situation reingehen, sondern man sollte lieber vorbereitet sein und lieber mit Problemen rechnen“, sagt Christian Drosten. Die zweite Welle ist inzwischen weitaus unberechenbarer als die erste. Die Pandemie wurde mit ihrem Beginn im ersten Anschwellen ausgebremst. Das gelang im Herbst mit einer Salamitaktik an Maßnahmen zunächst nicht.
Gesundheitsminister Jens Spahn setzt auf Corona-Impfungen
Jens Spahn favorisiert deshalb ein gestaffeltes Vorgehen „Schritt für Schritt entlang der Impfreihenfolge“. Wenn also die Pflegeheime bis Ende Februar durchgeimpft sind, könnten zunächst hier die restriktiven Besuchsbestimmungen gelockert werden. Zu weitreichenden Entscheidungen, wann zum Beispiel unter welchen Bedingungen Geschäfte, Gaststätten oder Schulen wieder öffnen können, hält sich der Gesundheitsminister bedeckt. Sein Weg bleibt die Impfkampagne.
Doch das hält der CSU-Politiker Nüßlein für zu wenig. „Die Menschen halten sich zum größten Teil an die geltenden Regeln, aber ich stelle auch fest, dass die Stimmung kippt“, warnt Nüßlein. „Es gilt jetzt, die vielen Negativ-Aspekte einer Lockdown-Politik noch stärker in den Blick zu nehmen.“ Der CSU-Politiker nennt als Beispiele die Schulen, psychische Probleme, die Einschnitte im sozialen Bereich. „Die Menschen im Land erwarten, dass wir dann anders mit dem Thema umgehen“, sagt er. „Wir müssen konsequent auf medizinische Masken setzen und viel öfter testen.“ Anstatt Milliardenbeträge für den Ausgleich wirtschaftlicher Schäden aufzubringen, sollte der Staat hier mehr Geld in die Hand nehmen. „Das heißt zum Beispiel: kostenlose und regelmäßige Tests für alle und weg mit der Mehrwertsteuer auf medizinische Masken; dazu für jeden gut erreichbare Tests in Apotheken“, erläutert er.
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