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Foto: Mohammed Talatene, dpa
Foto: Mohammed Talatene, dpa

Ein palästinensischer Sanitäter im Gazastreifen erhält eine Dosis des russischen Corona-Impfstoffs Sputnik V.

Corona-Pandemie
24.02.2021

Im Schatten von Israel: Palästinenser kämpfen um Vakzine

Von Pierre Heumann

Während sich Israelis im Eiltempo gegen Covid-19 impfen lassen, kämpfen die Hamas und die Fatah in Palästina um den knappen Impfstoff. Die Bevölkerung leidet unter dem Bruderstreit.

Es beginnt mit einem Telefonat ins Gesundheitsministerium von Gaza. Frage: "Wie steht der Küstenstreifen die Coronakrise durch?" Die Antwort von Abdulatif Alhaj, zuständig für internationale Kooperation, ist angesichts der desolaten Lage Gazas verblüffend: Die Zahl der Todesfälle, sagt er, sei deutlich niedriger ist als in den USA, Brasilien, Russland, Deutschland oder Israel. Eine Datensammlung des US-Senders CNN bestätigt es: Während auf 100.000 Einwohner in Palästina 42 Todesfälle ausgewiesen werden, die auf Corona zurückgehen, sind es in Israel 62, in Russland 75, in den USA 152 und in Brasilien gar 177.

Alhaj führt das relativ gute Abschneiden von Gaza unter anderem auf die Altersverteilung in der Bevölkerung zurück: "Nur vier Prozent sind in Gaza älter als 60 Jahre." Zudem seien in Gaza praktisch alle gegen Tuberkulose geimpft. Das, hätten ihm europäische Lungenärzte gesagt, könne vielleicht auch vor Covid-19 schützen. Schließlich sieht der studierte Chirurg Alhaj einen Zusammenhang zwischen der oft verschmutzten Umwelt, in der die Kinder leben, und der Entwicklung ihres Immunsystems.

Bei der ersten Welle blieb Gaza von Corona weitgehend verschont

"Bei uns in Gaza wachsen die Kids weniger steril auf als in europäischen Städten", sagt Alhaj und spricht von einer "natürlichen Immunität". Trotz des ungesunden Lebens in Flüchtlingslagern sei die Infektions-Todesrate in ganz Palästina "sehr niedrig", bestätigt die Präventivmedizinerin Rand Salman, die das nationale Gesundheitsinstitut leitet.

In der ersten Hälfte des vergangenen Jahres war Gaza von der Krise verschont geblieben. Während andere Staaten, darunter auch Israel, im Lockdown waren, verlief das Leben normal. Es gab keine Ausreisen, aber vor allem auch keine Einreisen, mit denen der Erreger hätte eingeschleppt werden können. Gaza wurde von Israel noch stärker abgeriegelt als sonst. "Einmal war es für uns ein Vorteil, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein", meint ein Arzt in Gaza zynisch. Doch ab Herbst wurde das Virus aus Ägypten eingeschleppt.

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Foto: Mahmoud Ajjour, dpa
Foto: Mahmoud Ajjour, dpa

In einem Kindergarten in Gaza-Stadt werden Gesichtsvisiere und Mund-Nasen-Schutz getragen.

Während sich Israel als Impfweltmeister profiliert und bereits ein Drittel der Bürger zwei Dosen des Biontech-Impfstoffs erhielt, treffen bei den Palästinensern die Ampullen nur häppchenweise ein. Mit ihnen können derzeit nur rund 0,8 Prozent der palästinensischen Bevölkerung geimpft werden, hat die Nichtregierungsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" ausgerechnet.

Viele Palästinenser arbeiten in Israel - und bleiben ohne Impfung ein Corona-Risiko

Die Diskrepanz in der Impfstoffversorgung armer und reicher Länder ist zwar weltweit ein Problem. Aber die ungleiche Anlieferung zeige sich in Israel und in den palästinensischen Gebieten deutlicher als anderswo, sagt der Österreicher Gerald Rockenschaub, der in den palästinensischen Gebieten während mehr als sechs Jahren das Regionalbüro der WHO geleitet hat.

Es sei freilich auch im Interesse Israels, dass die Palästinenser "adäquat" geimpft werden, meint Rockenschaub. 140.000 Palästinenser haben in Israel einen Job. Werden sie nicht geimpft, bleiben sie ein Corona-Risiko. Demnächst sollen deshalb 100.000 Palästinenser aus der Westbank – wie man das Westjordanland auch nennt – immunisiert werden, weil sie in Israel arbeiten. Aber die Diskrepanz bleibt eklatant.

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Foto: Ashraf Amra, dpa
Foto: Ashraf Amra, dpa

Die Bevölkerung Palästinas ist sehr jung: Nur vier Prozent sind über 60 Jahre alt.

Die Palästinensische Autonomieregierung (PA) erwartet zwar, im Laufe der nächsten Monate etwa 20 Prozent der Bevölkerung zu impfen. Die Dosen sollen ihr mithilfe der Weltgesundheitsorganisation WHO kostenlos bereitgestellt werden. Denn Palästina nimmt am sogenannten Covax-Programm teil. Das steht für "Covid-19 Vaccines Global Access" (deutsch: weltweiter Zugang zu Covid-19-Vakzinen) und soll Ländern unabhängig von ihrer Kaufkraft schnellen Zugang zu Impfstoffen gewährleisten.

"Wir werden alleingelassen", heißt es aus Gaza

Das palästinensische Gesundheitsministerium beabsichtigt zudem, genügend Dosen zu kaufen, um damit weitere 40 Prozent der Bevölkerung zu impfen. Doch der Plan könnte am Geldmangel der Autonomieregierung scheitern. "Wir werden alleingelassen", klagt Abdulatif Alhaj aus dem Gesundheitsamt in Gaza.

Dass diese Woche 22.000 Dosen eintrafen, die der PA von Russland gespendet wurden, stimme ihn zwar optimistisch. Ehemalige Gesundheitsminister und Ärzte ließen sich vor laufenden Kameras impfen. Ebenfalls zu Beginn dieser Woche kam eine weitere Sende von 20.000 Sputnik-V-Dosen in Gaza an: Sie waren mit Geldern aus den Vereinigten Arabischen Emiraten finanziert worden. Der Gesundheitsminister von Gaza, Ghazi Hamad, spricht von einem "enormen Beitrag" für die medizinische Versorgung des Gazastreifens – was massiv übertrieben ist: In Gaza leben knapp zwei Millionen Menschen, im Westjordanland drei Millionen.

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Foto: Mohammed Talatene, dpa
Foto: Mohammed Talatene, dpa

Zwischenzeitlich war wegen der Corona-Pandemie ist der Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten abgeriegelt.

Beide Impfstofflieferungen reflektieren die innen- und außenpolitischen Probleme der Palästinenser. Die Hamas im Gazastreifen und die Fatah-Partei in der Westbank sind seit dem Bürgerkrieg von 2007 aufs Ärgste miteinander verfeindet. So leitete die Regierung in Ramallah (Westjordanland), die 22.000 Dosen aus Moskau erhalten hatte, nur 2000 nach Gaza weiter, wo die radikalislamische Hamas herrscht. "Die Palästinensische Autonomieregierung in der Westbank zeigt sich einmal mehr nicht solidarisch mit Gaza", sagt der Mann aus dem Gesundheitsamt. Sie habe den größten Teil der Sputnik-Dosen für sich behalten, obwohl dem Gazastreifen aufgrund der Bevölkerungsverteilung 40 Prozent der Lieferung aus Russland zustehen würden.

Jerusalem blockierte Impfstoff-Lieferung nach Gaza

Zoff gab es zudem mit Israel. Jerusalem wollte die Lieferung nach Gaza zunächst nicht durchlassen. Solange die Hamas zwei Israelis gefangen halte und sich weigere, zwei Leichen von Soldaten freizugeben, sei an ein Entgegenkommen nicht zu denken. Die Hamas, so die Meinung in Israel, dürfe für ihr verwerfliches Verhalten nicht belohnt werden.

Politik spielte auch bei der Lieferung aus Abu Dhabi eine Rolle. Mohammed Dahlan, ein Widersacher des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas, wolle sich aus seinem Exil in den Arabischen Emiraten, wo er bestens vernetzt ist, lediglich bei seinen Landsleuten in Gaza beliebt machen, meint ein Politologe an der Al-Quds-Universität in Jerusalem.

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Foto: Yousef Masoud, dpa
Foto: Yousef Masoud, dpa

DerGrenzübergang Rafah zwischen Palästina und Ägypten.

Zwar hätten die Palästinenser Israel um Hilfe angehen können, um Ampullen zu erhalten. Doch anfänglich wollte die Autonomieregierung nichts davon wissen. Da sie von der internationalen Gemeinschaft als Staat anerkannt werden will, wäre es widersprüchlich gewesen, Israel um Unterstützung zu bitten. "Wir sind unabhängig vom Verteidigungsministerium in Tel Aviv," sagte kürzlich ein Dozent an der Bir-Zeit-Universität unweit von Ramallah und fügte stolz hinzu: "Wir haben unser eigenes Gesundheitsministerium und es strengt sich mächtig an, um den Impfstoff nach Palästina zu bringen." Die PA hatte in der Tat geglaubt, dass sie den Impfstoff von Geberländern oder internationalen Organisationen sehr schnell erhalten würde, bestätigt Ahmad Majdalani, der in der Autonomieregierung Minister für soziale Entwicklung ist.

Erst als klar wurde, dass diese Hilfe nicht oder nur spärlich eintreffen würde, änderte die PA ihre Strategie. Die Palästinenser berufen sich seither aufs Völkerrecht, wonach Israel als Besatzungsmacht verpflichtet sei, ihnen Impfstoff zu liefern. "Da Israel nach wie vor unser Land besetzt, hat es eine moralische Verantwortung, die humanitäre Krise zu lösen", sagt zum Beispiel ein palästinensischer Parlamentarier aus Bethlehem. "Weil Israel unser Gebiet abriegelt, muss es uns eben so viele Ampullen geben wie den Bürgern in Tel Aviv," meint auch der gesundheitliche Chefbeamte Alhaj.

Muss Israel sich um die Palästinenser kümmern?

Die israelische Regierung sieht das hingegen anders. Mit den Osloer Friedensverträgen aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre hätten die Palästinenser die Verantwortung für die medizinische Versorgung der Bevölkerung in der Westbank und im Gazastreifen übernommen. Damit, sagt die gegenüber ihrer Regierung kritisch eingestellte israelische Journalistin Amira Hass, sei Israel "fein raus": Jerusalem sehe sich nicht mehr für das Los der Palästinenser verantwortlich. Israel könne dank den Osloer Verträgen palästinensische Gebiete kontrollieren, ohne dafür die Kosten zu tragen, sagt Hass. Allerdings – und das würden Israelis gerne übersehen – wurde damals im Abkommen mit den Palästinensern auch vereinbart, im Falle einer Epidemie zu kooperieren.

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Foto: Pierre Heumann
Foto: Pierre Heumann

Ibrahim Salameh ist Touristenführer – und wartet vergeblich auf Pilger.

Die Corona-Pandemie ist für Palästinenser wirtschaftlich ein schwerer Schlag – mit allerdings großen Unterschieden in Gaza und auf der Westbank, sagt Alhaj. Ende 2020 lag die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen bei fast 40 Prozent, in der Westbank betrug sie weniger als 20 Prozent. Im vergangenen Jahr schrumpfte das palästinensische Sozialprodukt um über elf Prozent, schreibt die Weltbank in ihrem jüngsten Bericht. Für 2021 rechnet sie mit einem Wachstum von immerhin 3,5 Prozent.

Hart getroffen hat es zum Beispiel den 55-jährigen Touristenführer Ibrahim Salameh aus Bethlehem. Sein letzter Arbeitstag, da erinnert er sich genau, war der 11. März 2020. Die Zahl der Kunden ist seither wegen des Coronavirus vollkommen eingebrochen. Frühestens in der zweiten Jahreshälfte rechnet Salameh wieder mit Touristen und Pilgern. Seine Familie mit vier Kindern bringt er wirtschaftlich nur über die Runden, weil er seine Ersparnisse angreift, die eigentlich als Altersvorsorge gedacht waren.

Viele in Palästina halten Corona für ein Komplott

"Ich sehe schwarz für die nächsten Jahre", sagt Salameh. Die 70 Hotels in der Geburtsstadt Jesu, die 600 diplomierten Fremdenführer, die rund hundert Souvenirshops und die schätzungsweise 4000 Hotelangestellten hätten ihr Einkommen verloren. Viele, die vom Fremdenverkehr leben, hätten sich von der Branche abgewandt. "Bis wir wieder genügend Leute haben, die wissen, was Touristen oder Pilger wollen, wird eine geraume Zeit verstreichen."

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Die Behörden in der Westbank und im Gazastreifen reagieren mit unterschiedlichen Maßnahmen auf die Corona-Krise. In der Westbank sind tagsüber derzeit Restaurants und Geschäfte geöffnet, oft auch bis am späten Abend. Nur wenige tragen eine Maske. In Gaza hingegen setzt die radikalislamische Hamas den Lockdown aggressiv durch, zuletzt auch mit ganztägigen Ausgangssperren.

Viele Palästinenser hielten die Corona-Krise für ein "Komplott des Westens", der damit die Weltherrschaft anstreben wolle, sagt ein europäischer Diplomat in Ramallah. Weder Impfungen noch Vorsichtsmaßnahmen halten sie deshalb für vorrangig. Die Autonomieregierung kämpfe zwar gegen die gezielt gestreuten Fake News an, und auch die Medien rufen dazu auf, die wichtigsten Hygieneregeln wie die Einschränkung der Sozialkontakte einzuhalten. Aber Menschen, davon sind vor allem in den Dörfern viele überzeugt, hätten auf das Datum ihres Todes keinen Einfluss: "Das wird oben entschieden."

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