Der Präsident schien sichtlich stolz. „Es war nicht einfach“, sagte Joe Biden. Trotzdem sei es seiner Regierung gelungen, schon in den ersten 60 Amtstagen 100 Millionen Covid-Impfungen zu verabreichen. Doch nun, mahnte Biden ernst, dürften die Amerikaner keineswegs beim Abstand halten und Maskentragen nachlassen: „Bitte, bitte, lassen Sie nicht geschehen, was in Europa passiert ist!“ Der alte Kontinent als abschreckendes Beispiel?
Schärfer könnte der Kontrast kaum sein zum vergangenen Sommer, als Europa, und vor allem Deutschland, im aufgeklärten Amerika als leuchtende Vorbilder in der Corona-Krise galten. In Deutschland war die Zahl der täglichen Neuinfektionen gerade unter 500 gesunken, in den USA schoss sie auf 60.000, als Ruchir Sharma, der Top-Stratege der New Yorker Investmentbank Morgan Stanley, im Juli eine mutige Prognose wagte: „Welches Land wird in der Nach-Pandemie-Welt triumphieren?“, fragte der Ökonom. Die Antwort war: Deutschland. Nicht nur die Flankierung der Krise mit Kurzarbeitergeld und staatlichen Finanzhilfen galt in den USA als beispielhaft. Vor allem bewunderte man den naturwissenschaftlich-nüchternen Umgang der Kanzlerin mit der Pandemie, während der eigene Präsident über die Injektion von Desinfektionsmitteln fabulierte.
Die USA haben den Corona-Impfturbo gezündet
Acht Monate später hat sich die einstige Bewunderung in ungläubiges Erstaunen und besorgtes Kopfschütteln verkehrt. „Es sieht so aus, als wenn Europa an allen Fronten verliert“, urteilte die Nachrichtenseite Politico diese Woche. Die New York Times überschrieb ihren Newsletter mit der Headline: „Europas Impfchaos“. Und die Washington Post widmete dem alten Kontinent gar einen Leitartikel. „Keine Medizin ist hundert Prozent sicher“, schulmeisterte das Blatt da über den Atlantik. Zwar müsse die Politik „wachsam für ernste Probleme sein“. Vor allem aber müsse sie „Panik vermeiden“. Auslöser der kritischen Berichterstattung war die Entscheidung zahlreicher europäischer Länder, die Impfung mit dem Vakzin von AstraZeneca vorübergehend auszusetzen.
Doch die Ernüchterung über die europäische Rolle in der Corona-Krise wurzelt tiefer. Während in den USA die Zahl der Neuinfektionen sinkt und schon 22,7 Prozent der Bürger eine Spritze erhalten haben, bewegt sich Europa mit hoher Geschwindigkeit auf die dritte Welle zu und hat gerade einmal 8,3 Prozent der Bevölkerung zumindest teilgeimpft. Europa agiere viel zu langsam und werde das Opfer seines Versuchs, den Impfstoff möglichst billig einzukaufen, lautet der Tenor der Kritik. New-York-Times-Kolumnist David Leonhardt kondensiert die Probleme in drei Schlagworte: „Zu viel Bürokratie“, „Pfennigfuchserei“ und „eine wachsende Impfskepsis“. Letzteres, argumentiert die Washington Post, werde nun noch wachsen: „Die europäische Impfkampagne hinkt ohnehin hinterher.“
Entsprechend kritisch beurteilten viele US-Wissenschaftler von Anfang an die Impfpause mit AstraZeneca: „Das wird Leben kosten“, warnte der Gesundheitswissenschaftler Ashish Jha von der renommierten Brown-Universität. Der Impfexperte Peter Hotez geißelte im linken Sender MSNBC die „Panik“ unter den Europäern, die „eine gefährliche Erosion“ des Vertrauens auslösen könne. „Es ist beunruhigend, wenn man die wirksamste Waffe im Kampf gegen Covid aus dem Verkehr zieht“, monierte auch die kalifornische Epidemiologin Kirsten Bibbins-Domingo.
Corona: In den USA rechnet Anthony Fauci mit einer schnellen Zulassung von AstraZenecas Impfstoff
Die US-Wissenschaftler sind nicht nur besorgt, dass Varianten des Virus in ihr Land eindringen werden, solange Europa die Pandemie nicht in den Griff bekommt. Sie fürchten auch, dass die Impfskepsis in den USA durch schlagzeilenträchtige Verbote der europäischen Politik wächst. Auch in Amerika soll nämlich AstraZeneca zum Einsatz kommen. Derzeit wird das Vakzin von den Aufsichtsbehörden geprüft. Anthony Fauci, der Top-Berater des Weißen Hauses, hält eine Zulassung noch im April für möglich.
Bislang jedoch verstauben nach einem Bericht der New York Times rund 30 Millionen Dosen des kostbaren Impfstoffs in einem AstraZeneca-Werk in Ohio. Wegen eines schon zu Trump-Zeiten verhängten Exportstopps dürfen sie nicht ausgeführt werden. Für vier Millionen Dosen, die nach Mexiko und Kanada gehen, will die Biden-Regierung nun eine Ausnahme machen. Doch von Europa ist nicht die Rede. Möglicherweise wird das Thema zur Sprache kommen, wenn US-Außenminister Antony Blinken in der nächsten Woche Brüssel besucht. Neben der Teilnahme an der Nato-Außenministerkonferenz steht auch eine Begegnung mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem Programm. Das wichtigste Thema: transatlantische Ziele zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie.“ Da kann Europa plötzlich etwas von den USA lernen.
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