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Corona-Pandemie: DIVI-Präsident: "Die Politik muss sofort handeln. Es geht um Menschenleben"

Corona-Pandemie

DIVI-Präsident: "Die Politik muss sofort handeln. Es geht um Menschenleben"

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    Gernot Marx: «Die Lage ist sehr dramatisch.». Der DIVI-Präsident fordert die Politik in einem Appell zum Handeln auf.
    Gernot Marx: «Die Lage ist sehr dramatisch.». Der DIVI-Präsident fordert die Politik in einem Appell zum Handeln auf. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Herr Professor Marx, es scheint, dass ihre Warnungen an die Politik schnell für einen Lockdown zu handeln, bislang nicht ausreichend ankommen. Wie schwierig ist die Lage auf den Intensivstationen?

    Gernot Marx: Die Lage entwickelt sich leider genauso, wie wir es in den ungünstigen unserer Szenarien vorhergesagt haben. Wir erleben einen ungebremsten Anstieg der Infektionen und einen ungebremsten Anstieg der Intensivpatienten. Wir sehen fast 30.000 Neuinfektionen mit Corona in Deutschland. Die Sieben Tage Inzidenz ist auf schon jetzt auf 160 gestiegen. Die Intensivstation laufen an vielen Klinikstandorten voll. Wir haben zwar noch einige Highcare-Betten in Deutschland frei, also die, in denen Corona-Patienten invasiv beatmet werden können, aber wir sehen schon jetzt in den Ballungsräumen große Probleme. Und es kommen immer mehr Corona Patienten. Diese unmittelbar lebensbedrohlich erkrankten Patienten bekommen dann den Vorzug gegenüber anderen Patienten: So müssen wir bereits jetzt sehr viele Operationen absagen. Und wir müssen an vielen Orten schwer kranke Patienten in andere Kliniken verlegen, weil wir keine Kapazitäten mehr haben. Die Lage wird mit jedem Tag schwieriger für uns.

    Intensivmediziner: Jetzt ist keine Zeit für Wahlkampf

    Wie lautet ihr Appell an die Politik?

    Marx: Jetzt ist keine Zeit für Wahlkampf. Und auch keine Zeit für großes Feilschen an Details. Wir sind jetzt in einer sehr kritischen Phase der Pandemie angekommen. Deutschland befindet sich in einer absoluten Krise. Wir müssen jetzt auch in der Politik von den gewohnten Abläufen abweichen. Die dringende Bitte der deutschen Intensivmediziner lautet, dass dieses Gesetz in der kommenden Woche im Bundestag beschlossen und umgesetzt wird. Man kann danach immer noch einzelne Maßnahmen modifizieren. Aber wir brauchen jetzt zuerst die Zustimmung. Jeder Tag mehr bedeutet mehr Infektionen, mehr schwer kranke Menschen und mehr Patienten, die an Corona sterben werden – und mehr Patienten die schwerer erkranken oder sterben, weil wir so viele Corona-Patienten haben.

    Klinken müssen wegen Pandemie OP-Patienten nach Hause schicken

    Wie ist die Versorgung der anderen Patienten denn noch möglich? Die Zeitungen sind wieder voll mit Meldungen schwerer Unfälle…

    Marx: Das ist genau unsere Sorge: Natürlich haben wir neben Corona weiterhin sehr viele Menschen, die schwer erkranken oder bei Unfällen schwer verletzt werden, die wir umgehend versorgen müssen. Es gibt Unfallpatienten, Herzinfarkt Patienten, Patienten mit akutem Bauch und natürlich auch Patienten, die bereits in den Kliniken liegen und deren Zustand sich verschlechtert. All diese Menschen müssen wir auch auf Intensivstationen versorgen. Und hier ist es bereits an vielen großen Klinikstandorten heute schon extrem knapp, zum Beispiel in Köln oder in Bremen. Auch in Thüringen und Sachsen wird es bereits eng in der Intensivversorgung. Selbst in Niedersachsen, wo die Corona-Infektionssituation weniger schlimm ist als in anderen Bundesländern, haben wie bereits mehr Covid 19 Patienten als in der zweiten Welle. Denn erstens liegen die Corona-Patienten ungewöhnlich lange auf den Intensivstationen und zweitens sind diese derzeit etwa 4.700 Patienten so eigentlich im Gesundheitssystem gar nicht eingeplant. Überall, wo jetzt ein Covid-19-Patient liegt, müssen wir sehen, wo wir die Notfallpatienten anstatt unterbringen und schicken die OP-Patienten nach Hause.

    Wie lange dauerte es denn überhaupt, bis Sie an den Kliniken einen Effekt eines schärfern Lockdowns spüren?

    Marx: Bevor wir einen Effekt einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes an den Kliniken überhaupt bemerken, werden mindestens weitere 14 Tage vergehen. Und wir wissen bereits heute, dass sich die Situation weiter in den kommenden zwei Wochen dramatisch zuspitzen wird, denn so lange dauert es, bis viele bereits jetzt infizierte Menschen im Verlauf ihrer Krankheit in den Kliniken aufgenommen werden müssen. Und es ist eben schon jetzt schwierig, freie Intensivbetten für Covid Patienten als auch für andere Notfälle zu finden. Die Politik muss jetzt unverzüglich handeln! Das Gesetz muss beschlossen werden, wir brauchen einen harten Lockdown. Wir haben kein Verständnis für Detaildiskussionen, ob eine einzelne Maßnahme sinnvoll ist oder nicht. Darum geht es jetzt nicht. Wir müssen jetzt eine bundeseinheitliche Lösung durchsetzen. Danach kann man immer noch diskutieren und korrigieren oder verschärfen. Jetzt aber ist keine Zeit für wissenschaftliche und politische Diskussionen – jetzt ist höchste Zeit zu handeln! Jetzt ist Pandemie, jetzt ist Krise. Da muss also Pragmatismus walten!

    Gernot Marx: Zögern führt zu noch härterem und längerem Lockdown

    Wenn man ihre Zahlen sieht, heißt das wenn wir jetzt nicht die Schrauben sehr viel strenger anziehen, dass wir dann in wenigen Wochen auf einen viel härteren Lockdown zu steuern, wie es Großbritannien und Portugal mit der britischen Virusvariante erlebt haben?

    Marx: Je länger wir jetzt zögern, desto härter und desto länger wird der Lockdown für Deutschland sein. Denn dann müssen wir noch viel höhere Infektions- und Inzidenzzahlen nach unten bringen. Deshalb ist das jetzige Zögern und Warten einfach absolut unverständlich.

    Die Menschen die jetzt bei Ihnen auf der Intensivstation liegen, haben sich ja bereits vor zwei bis drei Wochen angesteckt, als die Infektionszahlen ja noch viel, viel niedriger waren als heute. Heißt das, sie steuern bereits jetzt in die Krise in den Kliniken?

    Marx: Das ist leider so. Die Zahl der Neuaufnahmen ist schon jetzt um ein Drittel im Vergleich zur Vorwoche gestiegen. Wir haben über 600 Neuaufnahmen nur mit Corona, da sind andere Krankheiten und Unfälle noch gar nicht dabei, die zu unserem normalen Alltag gehören. Das Problem verschärft sich zusätzlich dadurch, dass Covid-19-Patienten im Vergleich zu den übrigen Patienten eine sehr lange Liegedauer auf den Intensivstationen haben. Ein Durchschnittspatient liegt fünf bis sechs Tage auf der Intensivstation, bei Covid-19-Patienten liegt der Durchschnitt bei 16 Tagen. Aber jeder vierte Covid-19-Patienten liegt sechs Wochen auf der Intensivstation und zehn Prozent sogar länger als zwei Monate. Corona Patienten brauchen sehr lange unsere Unterstützung. Dabei sprechen wir noch gar nicht von der extremen Arbeitsbelastung für unsere Teams. Jetzt geht es darum, dass unsere Kapazitäten als Ganzes volllaufen. Wir stehen bereits kurz davor, dass wir unsere Notfallreserven aktivieren müssen und das bedeutet das die Versorgungqualität nicht nur für Corona Patienten, sondern auch für alle anderen Intensivpatienten in Mitleidenschaft gezogen wird. Wir müssen dann auch viele nicht intensiv-medizinische Kräfte in unsere Teams integrieren. Und auch diese Kräfte fehlen wieder an anderer Stelle.

    Großer Aufwand Intensivpatienten zu verlegen

    Das bedeutet , dass noch mehr wichtige Operationen verschoben werden müssen?

    Marx: Die dringenden Notfalloperationen führen wir natürlich durch, aber es müssen auch Operationen verschoben werden, die man nur sehr ungern aufschieben kann. Solche Verschiebungen bedeuten oft eine extreme Belastung für diese Patienten, auch wenn nicht direkt akut ihr Leben daran hängt. Es ist nicht schön zu wissen, einen Krebstumor im Bauch zu haben, der wachsen und streuen könnte, der normalerweise in den nächsten Tagen entfernt würde, aber jetzt in der Pandemie eben nicht. Wir können als Mediziner auch nicht mit Sicherheit ausschließen, dass durch diese Verschiebungen die Therapie am Ende schwieriger wird. Die Menschen leiden auf jeden Fall unter dieser Situation.

    Wie schwierig ist es denn Patienten zu verlegen?

    Marx: Es ist ein großer Aufwand Intensivpatienten zu verlegen. Sowohl um diese Menschen nicht zu gefährden, als auch organisatorisch. Für die Kliniken kommt dieser Aufwand, neben dem großen Aufwand den uns die Pandemie ohnehin bereitet, noch dazu. Wir haben uns zwar organisatorisch gut darauf vorbereitet. In der Praxis aber ist viel Zeit damit verbunden, ein passendes freies Bett in einer anderen Klinik zu finden. Und normalerweise werden zum Beispiel wie jetzt aus Köln keine Patienten wegen Kapazitätsproblemen in andere Kliniken verlegt, sondern andersherum.

    Wie erklären Sie sich, dass die Politik trotz der explodierenden Infektionszahlen so langsam auf diese Situation reagiert? Wiegt man sich, je länger man die Pandemie übersteht, in trügerischer Sicherheit?

    Marx: Ich bin Mediziner und Wissenschaftler. Ich arbeite und denke sehr Fakten basiert. Ich kann es nicht nachvollziehen. Von den 30.000 Menschen, die sich jetzt an einem Tag neu infizieren, werden in zwei Wochen 300 bis 600 auf der Intensivstation liegen, die Hälfte davon beatmet im künstlichen Koma. Nach wie vor stirbt jeder zweite Patient, den wir beatmen müssen. Angesichts dieser Zahlen verstehe ich es überhaupt nicht, dass man über Sinn und Unsinn einer einzelnen Corona-Maßnahme hin und her diskutiert. Dafür fehlt uns Intensivmedizinern jegliches Verständnis, denn es sterben Tag für Tag Patienten bei uns. Und es sterben immer mehr. Es geht jetzt schlicht um Menschenleben.

    Zur Person: Gernot Marx, 55, ist Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin an der Uni Aachen und Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI.

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