Es sind harte Arbeitstage für Dr. Fleury Johnson. Furchtbare Arbeitstage. „Aber das Schlimmste ist“, sagt der junge Arzt, „dass wir den Menschen nicht so helfen können, wie es eigentlich notwendig ist.“ Die UPA Mesquita, eine medizinische Erstaufnahmestation, auf der der 28-Jährige arbeitet, liegt in Rio de Janeiros Baixada Fluminense, den Armenvierteln am Rand der Sechs-Millionen-Einwohner-Stadt. Dort, wo sich keine Touristen und Ausländer hinverirren, wo – wie sie in Rio sagen – das wirkliche Brasilien zu Hause ist. Wo alles anders ist als in den weltberühmten reichen Vierteln Ipanema oder Copacabana.
An der Betonwand der UPA führt ein blaues Geländer zum einzigen Eingang für alle Patienten. „24- Stunden-Betreuung“ steht auf der Mauer. Eigentlich ist die Station nur die erste Anlaufstelle für Patienten. Doch längst hat sich das Coronavirus hier eingenistet. Weil jeden Tag mehr Menschen mit Symptomen hier ankommen. Weil es viel zu wenig Beatmungsgeräte für viel zu viele Patienten gibt. Und vor allem viel zu wenig Intensivbetten. Doch wohin sollten die Kranken auch? „Es gelingt uns nicht, einen freien Platz in den Krankenhäusern zu finden“, sagt Johnson und es klingt frustriert. „Wir haben einfach nicht genug Unterstützung.“
Die Zustände in der UPA sind besorgniserregend. Es gibt keine Trennung zwischen Patienten mit Corona-Symptomen und jenen, die wegen anderer Erkrankungen kommen. Viele, die hier arbeiten, haben nicht einmal einen Mund-Nasen-Schutz. Was das medizinische Personal im Kleinen in der UPA Mesquita erlebt, ist in Brasilien inzwischen Alltag: Überforderte Gesundheitsstationen und Krankenhäuser kollabieren, die Zahl der Corona-Infizierten steigt rapide.
Innerhalb eines Tages sind in Brasilien 1262 Menschen an Corona gestorben
Allein am Dienstag meldete das Gesundheitsministerium 28936 neue Corona-Infizierte, 1262 Menschen sind innerhalb von 24 Stunden im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. Es ist dies die höchste Todeszahl innerhalb eines Tages. Inzwischen zählt man mehr als 550.000 Corona-Infektionen, mehr als 31.000 Tote sind zu beklagen. In São Paulo heben Bagger in diesen Tagen Massengräber aus, in Manaus ist man dazu übergegangen, die Gräber übereinander anzulegen. Anders reicht der Platz für die Toten nicht mehr.
Brasilien, das nach den USA als das Land mit den zweitmeisten Corona-Infektionen gilt, ist auf dem Weg, das neue Epizentrum der Pandemie zu werden. Tatsächlich dürften die Zahlen wesentlich höher liegen, schon weil im maroden brasilianischen Gesundheitssystem viel zu wenig getestet wird. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass die Zahl der Infizierten mindestens sieben Mal höher ist als bislang bekannt. „Wir sehen eine Explosion der Fälle und wir wissen nicht, wo das enden wird“, sagt der Epidemiologe Diego Ricardo Xavier von der Oswaldo Cruz Foundation.
In Rio ist inzwischen eine Notklinik, die auf der Spielfläche des legendären Maracanã-Stadions errichtet wurde, in Betrieb. Aber fünf weitere Covid-19-Krankenhäuser sind noch immer nicht fertig. Für die Ärztin Cristina Brito ist das nur die eine Seite des Problems. „Es existiert eine Politik, die das öffentliche Gesundheitswesen abzubauen versucht“, sagt die 42-Jährige. „Was fehlt, ist, dass die Menschen und ihre Behandlung im Zentrum der Politik stehen.“
Bolsonaro hat die Pandemie als „kleine Grippe“ verharmlost
Das Coronavirus hat sich in Brasilien längst zur Staatskrise ausgeweitet. Und das nicht nur, weil die Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der seit Anfang 2019 im Amt ist, ein klägliches Bild abgibt. Zu Beginn hatte Bolsonaro das Coronavirus als „kleine Grippe“ verharmlost und die Bevölkerung aufgerufen, den Empfehlungen seines Gesundheitsministers Luiz Mandetta nicht Folge zu leisten. Inzwischen ist er beim dritten Gesundheitsminister angekommen – bei einem, der dem Einsatz des umstrittenen Malariamittels Chloroquin zustimmt, dessen Wirksamkeit bei Covid-19 noch gar nicht geklärt ist.
Bei einem Imbissbesuch nahe Brasilia provozierte Bolsonaro jüngst Menschenansammlungen, umarmte Anhänger, die Atemschutzmaske lag dabei nur auf seiner Schulter. Finanzielle Hilfe des Staates bleibt aus oder kommt kaum an. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatte der Präsident abgelehnt, deswegen übertrug das Oberste Gericht den Bundesstaaten und Gemeinden die Kompetenzen. So kommt es, dass im größten Land Lateinamerikas in fast jeder Stadt andere Regeln gelten und Geschäfte und Einkaufszentren öffnen, während das Land auf den Höhepunkt der Pandemie zusteuert.
Für die Menschen in den brasilianischen Favelas ist eine Krankenversicherung unbezahlbar
Wie wenig ernst viele Brasilianer das Virus nehmen, zeigte sich etwa in der Stadt Belém, als am ersten Tag des Lockdown der traditionelle Markt voll war. In São Paulo hatten die Menschen um Christi Himmelfahrt als Anti-Corona-Maßnahme von Mittwoch bis Montag frei – die Reichen fuhren ans Meer, Favela-Bewohner gingen in die Bars, auch weil sie es in ihren ärmlichen Behausungen nicht mehr aushielten. In Brasiliens riesigen Armenvierteln sind die Menschen dem Virus fast schutzlos ausgeliefert. Schon weil die Menschen hier auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Und weil eine private Krankenversicherung für die, die einen täglichen Kampf ums Überleben führen, schlichtweg unbezahlbar ist.
Ähnlich dramatisch ist die Lage am Amazonas, wo das Gesundheitssystem längst zusammengebrochen ist. Offiziellen Zahlen zufolge haben sich hier mehr als 40.000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Doch das Misstrauen in die offiziellen Statistiken ist groß. „Die eigenen Zahlen, die wir als indigene Bewegung bislang kennen, sind weitaus höher als die, die die offizielle Behörde bekannt gibt“, sagt Sonia Guajajara. Sie ist Koordinatorin der Vereinigung der indigenen Bevölkerung Brasiliens und gehört zu den prominentesten Aktivistinnen für die Rechte der Ureinwohner. Die für die Gesundheit der indigenen Bevölkerung zuständige Behörde müsse endlich Maßnahmen ergreifen, um das Leben der Ureinwohner zu schützen. „Es muss endlich Gesundheitszentren geben, die den Menschen medizinische Behandlung zukommen lässt“, fordert Guajajara. Und Krankenhäuser, die eine Grundversorgung auch für die indigenen Völker sicherstellen.
In Brasilien werden immer mehr Stimmen laut, die die Tatenlosigkeit der Regierung im Amazonasgebiet als durchaus gewollt bezeichnen – etwa, um die Abholzung der Amazonasregion voranzutreiben. Umweltminister Ricardo Salles jedenfalls will den Schatten der Corona-Krise nutzen, um Umweltvorschriften zu lockern. Vor einigen Wochen sagte er, die Gelegenheit sei günstig, weil die Medien derzeit nur ein Thema kennen: Corona.
Inzwischen ist das Land in zwei Lager gespalten. Da gibt es Bolsonaro, der die Gefahr der Pandemie lange verharmlost hat und für eine Öffnung des gesellschaftlichen Lebens wirbt, und da gibt es die, die für eine rigorose Bekämpfung des Virus sind. Wie tief der Riss ist, der durch die Gesellschaft geht, zeigte sich jüngst in Brasilia. Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen zogen mit schwarzen Holzkreuzen durch die Straßen, darauf die Namen der an Covid-19 erkrankten Ärzte und Pfleger. Auf der anderen Seite die Bolsonaro-Anhänger, die sie attackierten, beschimpften und als Lügner darstellten, es kam zu Rangeleien. Das Bolsonaro-Lager wiederum veranstaltet Autokorsos, die ein „Zurück zur Arbeit“ fordern. Auch sie werden beschimpft, sehen viele ausgestreckte Mittelfinger von Passanten.
Noch nie waren die Menschen so unzufrieden mit Brasiliens Präsident Bolsonaro
Inzwischen gewinnen die Demokratiebewegungen in Brasilien an Kraft und haben nun auch die Fußballfans an ihrer Seite. Wie die von Flamengo Rio de Janeiro, die sich am Pfingstsonntag an der Copacabana aufstellten. „Wir sind der Widerstand“ stand auf ihrem Banner. „Nie wieder Diktatur“, riefen sie. Auf der anderen Seite die Bolsonaro-Anhänger, die „die Pandemie ist eine Farce“ skandierten. Als die Gruppen fast aneinandergerieten, vertrieb die Polizei die Fans mit Pfefferspray und Tränengas. Auch in São Paulo ertönten die neuen Stimmen. Auf der Straße, sagt Politik-Wissenschaftler Mauricio Santoro, komme eine starke Empörung zum Ausdruck, Frust und Wut auf die Regierung. „Wir haben das Gefühl, dass die Pandemie für die Politik nicht das wichtigste Thema ist, nie ist sie die Nachricht des Tages in Brasilien. Es geht immer um unsere politische Krise, die Konflikte des Präsidenten.“
Tatsächlich schwindet die Unterstützung für Bolsonaro. In Umfragen kommt er nur noch auf 33 Prozent. Die Ablehnung ist mit 43 Prozent dagegen so groß wie noch nie. Zuletzt gingen selbst ranghohe Armeevertreter auf Distanz. Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Generäle seit jeher einen starken Machtfaktor im Land darstellen und Brasilien von 1964 bis 1985 auch regierten. Bolsonaro wiederum hat aus seiner Nähe zum Militär nie einen Hehl gemacht und wichtige Posten innerhalb des Regierungsapparats mit Generälen besetzt. Doch nun mehren sich die Stimmen, Bolsonaro könnte ausgerechnet durch das Militär gestürzt werden. Vize-Präsident und Ex-General Hamilton Mourão mühte sic in dieser Woche zu betonen, ein Staatsstreich sei völlig ausgeschlossen. Aber was ist so eine Aussage schon wert?
Bolsonaro selbst mischt sich entgegen den Ratschlägen von Medizinern immer wieder unters Volk und wird nicht müde, die Medien zu verspotten. „Ich werde mein Volk nicht in die Armut führen, nur um das Lob der Medien zu erhaschen.“ Während die Gouverneure und Bürgermeister teilweise harte Ausgangsbeschränkungen durchsetzten und so das wirtschaftliche Leben außer Kraft setzten, präsentiert sich Bolsonaro als Anwalt der Straßenhändler und Ladenbesitzer. Das macht es für die Gouverneure noch schwerer, ihren harten Kurs durchzusetzen. Denn an der Basis wächst die Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin.
Für solche Debatten hat Fleury Johnson, der junge Mediziner in der Notaufnahme in Rios Armenviertel, keine Zeit. Er kämpft nicht nur gegen die Pandemie, sondern auch mit den Realitäten. „Jeden Tag, den ich zur Arbeit gehe, weiß ich, dass das, was vor Ort passiert, viel schlimmer ist als das, was in den Medien ankommt.“
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