Es wird gerade über den Sinn oder Unsinn von Corona-Grenzwerten diskutiert. Ab welchem Inzidenzwert sind schwere Grundrechtseingriffe nicht mehr vertretbar?
Christine Lambrecht: Ganz grundsätzlich gilt: Begründungspflichtig ist die Anordnung von Einschränkungen und nicht deren Lockerung. Grundrechtseingriffe müssen immer verhältnismäßig und gut begründet sein. Der Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung ist eine solche gute Begründung. Der Inzidenzwert gibt uns eine deutliche Orientierung, wie stark sich das Virus ausbreitet, und daher hat ihn der Gesetzgeber im Infektionsschutzgesetz festgeschrieben. Auch die Frage nach der Auslastung der Krankenhäuser spielt eine wichtige Rolle. Zuletzt hat das Auftreten der Virusvarianten eine neue Lage geschaffen. Wenn wir das Virus erfolgreich bekämpfen wollen, müssen wir das gesamte Bild im Blick haben und bereit sein, die Lage immer wieder neu zu bewerten. So ist es ja beim letzten Treffen von Kanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten in Bezug auf die Schul- und Kitaöffnungen auch passiert.
Friseurläden dürfen öffnen und der Besuch dort kann schon mal eine Stunde dauern. In den kleinen Woll-Laden daneben darf ich nicht mal für fünf Minuten, um mir einen Schal zu kaufen. Ist das angemessen?
Lambrecht: Es geht ja nicht nur um die Situation im Laden. Die Menschen müssen ja auch zu den Geschäften kommen. Und da macht es mit Blick auf das Infektionsgeschehen einen großen Unterschied, ob Einzelne zum Friseur fahren oder sich, womöglich mit anderen, zur Shoppingtour aufmachen. Mich jedenfalls haben die Bilder der vollen Fußgängerzonen in Österreich oder Italien sehr alarmiert.
Also bleiben die meisten Geschäfte erst einmal geschlossen?
Lambrecht: Wir müssen Tag für Tag und Woche für Woche genau schauen, wie sich die Entwicklung darstellt. Und noch mal: Nicht die Lockerungen müssen begründet werden, sondern die Einschränkungen. Die Gerichte beobachten das sehr genau. Diese genaue Kontrolle ist nicht nur ein Gebot des Rechtsstaats, sondern trägt auch zur Akzeptanz der Corona-Entscheidungen in der Bevölkerung bei. Die Prüfung durch die Gerichte kann aber immer nur ein Korrektiv sein. Die Verantwortung für die Strategie bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie kann die Politik nicht an die Gerichte abgeben. Es ist also unsere Aufgabe als Politik, die Entscheidungen immer ganz konkret an der jeweiligen Situation auszurichten und zu begründen.
Sind Corona-Schnelltests ein Weg hin zu schnelleren Lockerungen?
Lambrecht: Es ist zunächst einmal wichtig, dass diese Tests nicht mit falschen Vorstellungen verbunden werden. Die Tests können immer nur über die aktuelle Situation Auskunft geben und sind auch nicht hundertprozentig sicher. Sie können aber eine Chance sein, das Risiko von Lockerungen für das Infektionsgeschehen zu reduzieren, deshalb muss man darüber ernsthaft sprechen. Neben den Impfungen können auch Tests dabei helfen, zurück zur Normalität zu kommen.
Gibt es da schon konkrete Überlegungen in der Regierung?
Lambrecht: Die Bundesländer müssen prüfen, ob die jetzt geltenden Maßnahmen bei ihnen noch erforderlich sind oder nicht mildere Maßnahmen wie die Durchführung von Tests oder die Anwendung von Hygienekonzepten ausreichen. Besonders wichtig ist es jetzt, die Schnelltests in Schulen und Kitas anzuwenden, damit wir den Schulbetrieb wieder aufnehmen können.
Ist das Parlament mittlerweile, nach einem langen Corona-Jahr, ausreichend an den Entscheidungen beteiligt?
Lambrecht: Es entspricht einfach nicht den Tatsachen, wenn immer behauptet wird, über die Corona-Maßnahmen entscheide nur die Kanzlerin bei ihren Treffen mit den Ministerpräsidenten. Das ist nicht so! In jeder Sitzungswoche wird im Bundestag über das Thema beraten, in den Länderparlamenten ist es ähnlich. Die gesetzlichen Grundlagen sind ganz klar im Bundestag beschlossen worden. Wir haben zum Beispiel eine der wichtigsten Fragen, nämlich dass bei der Impfung priorisiert werden kann und nach welchen Kriterien dies geschehen soll, per Gesetz geregelt. Das ist selbstverständlich eine Frage, mit der sich das Parlament befassen muss und das hat es getan.
Es gibt in Deutschland offenbar Menschen, die sich beim Thema Impfen für wichtiger halten als andere. Brauchen wir Sanktionen für Impfdrängler?
Lambrecht: Einzelne Vorkommnisse möchte ich hier nicht bewerten, da ich keine nähere Kenntnis von den Umständen habe. Wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, dass am Anfang Menschen geimpft werden, die ein besonders hohes Risiko für schwere Verläufe haben oder die dem Virus in besonders hohem Maße ausgesetzt sind. Wenn sich hier jemand vordrängelt, ohne an der Reihe zu sein, ist das absolut inakzeptabel. Ich kann verstehen, dass so ein Verhalten Empörung hervorruft.
Und was ist mit Sanktionen?
Lambrecht: Es gab ja scharfe Kritik daran und ich hoffe, dass die Berichterstattung über diese Fälle abschreckende Wirkung hat und jedem klarmacht, wie verwerflich ein solches Verhalten ist. Ob darüber hinaus auch Sanktionen erforderlich sind, muss man sich genau anschauen. Ich bin da zurückhaltend.
Wie ist der Stand bei den Privilegien für Geimpfte? Muss das Justizministerium da noch zur Klärung beitragen?
Lambrecht: Ich kann gar nicht oft genug betonen, dass Grundrechte keine Privilegien sind. Davon abgesehen ist die Debatte wichtig. Sie ist aber im Moment noch weitgehend theoretisch und zwar deshalb, weil wir ganz am Anfang mit den Impfungen stehen und auch weiterhin nicht genau wissen, ob Geimpfte das Virus übertragen können.
Anders gefragt: Dürfen nur Geimpfte ins Konzert?
Lambrecht: Ich hoffe jedenfalls, dass Konzerte bald wieder stattfinden können. Unter welchen Voraussetzungen solche Veranstaltungen wieder möglich sein werden, lässt sich heute allerdings kaum abschätzen. Wenn erst einmal genug Menschen geimpft sind, um die Pandemie zu beenden, stellt sich diese Frage nicht mehr. In der Zwischenzeit kann man möglicherweise auch Schnelltests einsetzen, um das Risiko solcher Veranstaltungen zu reduzieren. Voraussetzung ist natürlich, dass das Infektionsgeschehen Konzerte wieder zulässt. Das ist gegenwärtig leider noch nicht der Fall.
Wir stellen uns vor, dass sich bei einem Konzert in der Berliner Waldbühne 20.000 Hardrock-Fans ein Wattebäuschchen in die Nase schieben, bevor sie das Gelände betreten dürfen…
Lambrecht: Natürlich wird es auch von der Größe der Veranstaltung abhängen, welche Lösungen praktikabel und verantwortbar sind. Aber wissen Sie, als ich vor der Pandemie bei den Rolling Stones war, gab es ewige Schlangen vor dem Olympiastadion, weil man große Taschen abgeben musste. Anschließend musste ich mich in die nächste lange Schlange vor dem Eingang stellen. Man ist also als Konzertbesucher schon einige Strapazen gewohnt. Wenn das Testen der einzige Weg ist, um Konzerte wieder zu ermöglichen, werden die Leute dafür auch Verständnis haben.
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