Herr Linnemann, was ist höher zu gewichten – Wirtschaft oder Gesundheit?
Linnemann: Meiner Meinung nach führt diese Frage in die Irre. Wirtschaft und Gesundheit sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille. Das heißt, wir müssen die Wirtschaft jetzt langsam wieder hochfahren und gleichzeitig darauf achten, dass die Kapazitäten in den Krankenhäusern nicht überfordert werden. Wenn man schrittweise und kontrolliert vorgeht, kann das auch funktionieren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Linnemann: Die Bürger gehen doch erst dann wieder ins Restaurant oder ins Kino, wenn sie Vertrauen haben in unsere gesundheitspolitischen Maßnahmen. Das heißt: Die Wirtschaft hat selbst ein Interesse daran, offen mit der Politik über mögliche Bedingungen zu reden, unter denen sie wieder öffnen können.
Gleichwohl sind die Sorgen in der Bevölkerung groß. Warum denn?
Linnemann: Die Politik muss die Debatte über mögliche Exit-Strategien offener führen und hätte sich auch schon offener führen müssen. Dann wäre man vielleicht auch stringenter vorgegangen. Nehmen Sie das Beispiel Ladenfläche: Wenn das Buchgeschäft mit 2000 Quadratmetern öffnen darf, das Modegeschäft mit 1000 Quadratmetern aber nicht, dann sorgt das für Verwirrung, aber nicht für Vertrauen.
Wie kommt das bei den Geschäften, den Restaurant- oder Kinobesitzern an?
Linnemann: Die Unternehmen machen sich doch selbst viele Gedanken, weil sie wissen: Wenn wir morgen unsere Geschäfte wieder aufmachen, dann führt das nicht automatisch dazu, dass Kunden kommen. Sie wollen Sicherheit, dass sie sich nicht gesundheitlichen Risiken aussetzen müssen. Dafür aber braucht es klare und einheitliche Standards. Und die müssen von der Politik nicht nur gesetzt, sondern im Vorfeld auch diskutiert werden.
Für bedrohte Existenzen hat es ja die Soforthilfen gegeben. Das müsste erst mal reichen, oder?
Linnemann: Die Soforthilfen sind auf drei Monate begrenzt. Zumal der Staat nicht unendlich retten und finanziell stützen kann. Deshalb ist für die Betroffenen auch so wichtig, dass sie ihre Geschäfte wieder öffnen können. Sie brauchen dringend eine Perspektive.
Aber die Prognosen der führenden Wirtschaftsinstitute sind doch gar nicht so schlecht? Nach 4,2 Prozent Minus soll 2021 bereits wieder ein Plus von 5,8 Prozent da sein!
Linnemann: Ich kann die vielen optimistischen Zahlen, die da gerade auf dem Markt sind, nicht nachvollziehen. Die Virologen sagen uns, dass wir unser normales Leben erst wieder aufnehmen können, wenn Medikamente oder besser ein Impfstoff da ist. Und das wird leider dauern. Viele Institute aber gehen davon aus, dass die Wirtschaft nach acht bis 12 Wochen wieder voll hochfahren wird. Das passt nicht zusammen, darüber wundere ich mich. Um den Ernst der Lage zu erkennen, muss man sich nur in den aktuellen Geschäftsklimaindex anschauen. Die Stimmung der Unternehmen ist am Boden, einer Erholung der gebrochenen Lieferketten ist nicht in Sicht. Ich gehe davon aus, dass wir in Deutschland in diesem Jahr ein Minus im zweistelligen Bereich sehen werden.
So schlimm?
Linnemann: Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass wir nach dieser Krise insgesamt Wohlstandsverluste haben werden. Immer höher, immer weiter, immer verrückter – das wird nicht mehr funktionieren. Und: Wir müssen leider davon ausgehen, dass ein Teil derjenigen, die heute Kurzarbeit machen müssen, später arbeitslos sein werden. Ich mache mir derzeit Sorgen um den Juni und Juli, dann laufen nämlich viele Hilfspakete aus. Dann wird es eine Situation in Deutschland geben, in der die Entscheidungen der Politik schwierig werden. Denn im Moment wird ja in der Breite fast flächendeckend finanziell unterstützt. Das aber kann auf Dauer nicht gut gehen. Der Staat wird sonst finanziell an seine Grenzen kommen. Das bedeutet, dass wir uns jetzt auf diese Situation vorbereiten müssen: Wer bekommt Hilfen? Wo beteiligt sich der Staat? Welche Kriterien müssen wir anlegen?“
Woran denken Sie da?
Linnemann: Die Gefahr ist, dass die einzelnen Branchen ihre ureigenen Interessen durchsetzen wollen. Das ist legitim, aber politisch gefährlich, weil die Politik dann bei der jeweils nächsten Branche schwer Nein sagen kann. Wir müssen deshalb unsere Maßnahmen so anlegen, dass möglichst der breite Mittelstand erfasst wird. Das ist effektiver als ein Wünsch-Dir-Was-Konzert für einzelne Branchen. Wenn es beispielsweise um das Problem der fehlenden Liquidität geht, dann sollten wir uns prioritär auf die Abschaffung der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge konzentrieren. Davon haben alle was.
Sie unterstützen als MIT weiterhin Friedrich Merz als Kandidaten für den CDU-Vorsitz. Der hält sich gerade zurück, ebenso wie sein Mitbewerber Norbert Röttgen. Armin Laschet, der dritte Kandidat, hingegen ist kraft Amtes täglich in der Öffentlichkeit. Verschieben sich da gerade die Verhältnisse?
Linnemann: Wer sich in dieser Situation für das Thema CDU-Vorsitz interessiert, hat den Ernst der Lage noch nicht begriffen. Wir stecken in einer schweren Krise, in der die Menschen Existenzsorgen haben und in der die Soziale Marktwirtschaft zum Teil auf den Kopf gestellt wird. Wir stehen vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich persönlich interessiere mich im Moment nicht für diese Frage und es wird auch hinter den Kulissen nicht darüber geredet.
Sie wollen doch nicht wirklich behaupten, dass es Politikern mit einem gesunden Machtinstinkt wirklich gerade nur darum geht, anderen Menschen in der Krise Gutes zu tun?
Linnemann: Es ist wirklich so. Der CDU-Vorsitz ist kein Thema.
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