Gut eine Woche ist es her, dass Deutschland mit seiner Impfaktion gegen das Coronavirus begonnen hat. Große Hoffnungen liegen in dem Impfstoff und seiner Verteilung. Doch kaum dass die ersten Spritzen gesetzt wurden, hagelte es auch schon Kritik. Zu wenig Impfstoff, zu schleppende Verteilung, in anderen Ländern gehe es schneller voran: Die Bundesregierung und auch die EU-Kommission stehen unter Rechtfertigungsdruck. Immer lauter und massiver werden die Vorwürfe. Inzwischen gerät gar die Kanzlerin persönlich in die politische Schusslinie. Was aber ist dran an der Schelte? Eine Spurensuche.
Warum werden die Lizenzen für die Impfstoffe nicht weitergegeben?
Die Produktion von Impfstoffen ist nicht nur eine gigantische medizinische Erfolgsgeschichte – sie ist auch ein wirtschaftlicher Glücksfall für die Herstellerfirmen. Nur wenige Unternehmen liefern ihre Arzneimittel an die ganze Welt. Ein Milliardengeschäft, aber auch ein logistischer Flaschenhals. Eine "Krisenproduktion" fordert deshalb etwa FDP-Chef Christian Lindner. Man sollte darüber nachdenken, ob ein knapper Impfstoff wie der von Biontech nicht von anderen Herstellern in Lizenz produziert werden könnte. Der Linken-Gesundheitspolitiker Achim Kessler hatte sogar gefordert, Impfstoff-Hersteller zu zwingen, anderen Unternehmen eine Lizenz zum Nachproduzieren zu gewähren. Die Idee: Die "Rezepte" für den Impfstoff werden auch an andere Hersteller weitergegeben, um den Markt schneller zu bedienen. Eigentlich sind die aber durch Patente geschützt.
Die Welthandelsorganisation aber hätte durchaus einen Hebel in der Hand. Bei einem "nationalen Notstand" könnte sie Zwangslizenzen vergeben. Doch die Aussichten sind düster: Die EU, die USA, Großbritannien, die Schweiz und andere Industriestaaten lehnen eine Lockerung des Patentschutzes für Impfstoffe und Medikamente gegen Covid-19 ab. Eine entsprechende Initiative hatte es vor allem aus Entwicklungsländern gegeben: Sie haben federführend bei der Welthandelsorganisation (WTO) beantragt, den Patentschutz für Impfstoffe gegen Corona so lange auszusetzen, bis weltweit Herdenimmunität erreicht ist. Das würde nicht nur die Mengen erhöhen, sondern auch die Preise drücken. Denn die armen Länder leiden noch viel stärker unter dem Impfstoffmangel als der reiche Westen. Neu wäre ein solcher Schritt der WTO nicht: Ähnlich wurde auch vor 20 Jahren bei der Bekämpfung von HIV/Aids verfahren, als das internationale Patentschutzabkommen Trips gelockert wurde. Doch die Gegner der Initiative stellen klar, dass eine Lockerung des Patentschutzes ein falscher Anreiz für die pharmazeutische Industrie sei. Die Firmen würden kaum noch in die Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe investieren, wenn sie keine Patente dafür erhielten. Patentschutz sei der Grund, warum Investoren überhaupt Geld gäben, um Diagnostika, Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln, sagte der Chef der Pharmafirma Pfizer, Albert Bourla.
Auch die Bundesregierung könnte laut Infektionsschutzgesetz bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite das Patentrecht lockern. Dort steht: "Das Bundesministerium für Gesundheit wird im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unbeschadet der Befugnisse der Länder ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln einschließlich Impfstoffen und Betäubungsmitteln (...) zu treffen (...)." Der Patentinhaber hat dann Anspruch auf eine Vergütung. Bundesgesundheitsminister Spahn lehnt den Schritt bislang ab. Er baut darauf, dass auch andere Hersteller die Zulassung für ihre Impfstoffe erhalten und sich die Zahl der Impfdosen kontinuierlich erhöht.
Was sagen Impfstoff-Herstellerfirmen wie Biontech zur Diskussion?
Die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin sind seit Jahren Wissenschaftler der Extraklasse, aber längst auch versierte Unternehmer. Dazu gehört in Zeiten wie diesen auch ein guter Draht zur Politik. Das Ehepaar lässt sich nur zu einem gewissen Grad in die Karten schauen. Doch in einem Interview mit dem Spiegel deutet Sahin dann doch an, dass er zumindest überrascht war, wie die Europäische Union die Verhandlungen mit seiner in Mainz ansässigen Firma geführt hat: "Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffen kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert." Zwischen den Zeilen, so lässt sich erahnen, schwingt in diesen Worten auch Enttäuschung mit. Das mag auch daran liegen, dass Biontech von der Bundesregierung mit 375 Millionen Euro gefördert wird. Darauf verweisen Kritiker, die sich fragen, warum Europa und vor allem Deutschland nicht mehr Impfdosen Mainzer Provenienz erhalten.
Biontech hat der EU mehr Impfdosen angeboten, als ursprünglich vereinbart
Tatsächlich hatte Biontech der EU eine höhere Zahl von Impfdosen als die letztlich vereinbarten 300 Millionen angeboten. Doch Brüssel setzte darauf, das Risiko auf mehrere Hersteller zu verteilen, da im Sommer noch schwer zu überblicken war, welche Unternehmen ihr Vakzin als erste über die Genehmigungshürden bringen würden. Ein Prinzip, das Özlem Türeci für "durchaus richtig" hält. Doch als sich herausgestellt habe, dass viele Anbieter nicht zeitig liefern können, sei es zu spät gewesen, "umfänglich nachzuordern".
Gleichzeitig stellt Sahin aber in Aussicht, die Lieferungen deutlich zu steigern. Man sei auf der Suche nach neuen Kooperationspartnern, um die Produktion zu erweitern. Bereits jetzt wird daran gearbeitet, dass im Laufe des Februars in Marburg Biontech-Vakzine hergestellt werden können. Das Mainzer Unternehmen hatte ein dort gelegenes früheres Werk des Schweizer Pharmaunternehmens Novartis übernommen. Weitere Kooperationen werden angestrebt, sagte Sahin dem Spiegel. Allerdings sei das nicht einfach: "Es ist ja nicht so, als stünden überall in der Welt spezialisierte Fabriken ungenutzt herum, die von heute auf morgen Impfstoff in der nötigen Qualität herstellen könnten." Auf die Frage, ob Biontech andere Hersteller zur Produktion des neuen Impfstoffes lizenzieren könne, verwies Sahin auf die Komplexität bei der Herstellung von sogenannten mRNA-Impfstoffen: "Da kann man nicht einfach umschalten, sodass statt Aspirin oder Hustensaft plötzlich Impfstoff hergestellt wird. Der Prozess braucht jahrelange Expertise und eine entsprechende bauliche und technologische Ausstattung."
In diesem Zusammenhang könnte ein gewaltiges Produktionszentrum in den Blick fallen, das derzeit im Ulmer Gewerbegebiet Donautal entsteht. 500 Millionen Euro will Teva, der weltweit größte Hersteller für nachgeahmte Arzneimittel – kurz Generika genannt – dort investieren. Dies sagte der für Deutschland zuständige Geschäftsführer des israelischen Unternehmens, Christoph Stoller, Ende November auf Anfrage unserer Redaktion. Doch ob in der Anlage des Ratiopharm-Mutterkonzerns, die 2022 betriebsbereit sein soll, tatsächlich einmal Impfstoffe hergestellt werden, ist spekulativ. Dagegen spricht, dass Teva bisher keine Vakzine produziert und angekündigt hat, im Donautal in erster Linie ein neuartiges Medikament gegen Migräne herzustellen.
Weit konkreter ist die Hoffnung, die ein in Tübingen ansässiges Unternehmen weckt: Curevac ist noch vor Weihnachten in die klinische Testphase für seinen Corona-Impfstoff eingestiegen. Medizintechnisch verfolgt das deutsche Unternehmen einen ähnlichen Ansatz wie Biontech oder Moderna. "Wir hoffen, dass wir Ende des ersten Quartals wissen, wie hoch der Wirksamkeitsgrad unseres Vakzins ist. Danach könnte die zuständige europäische Behörde EMA den Zulassungsprozess starten", sagte Sarah Fakih von Curevac unserer Redaktion. Die EU hatte 225 Millionen Impfdosen bei Curevac bestellt, mit einer Option auf 180 Millionen weitere Einheiten. Bei Curevac ist die bundeseigene Förderbank KfW im Sommer mit 300 Millionen Euro eingestiegen. Auch Curevac ist bestrebt, mit der Erweiterung eigener Kapazitäten und Kooperationen die Bedingungen für eine rasche Produktionssteigerung zu schaffen.
Gesundheitsminister Spahn setzt zudem auf eine schnelle Zulassung des Impfstoffs des britisch-schwedischen Konzerns AstraZeneca. Der Impfstoff, der in Großbritannien bereits zugelassen ist, wird derzeit von den europäischen Zulassungsbehörden geprüft. Das Mittel hatte in Studien eine geringere Wirksamkeit aufgewiesen als der Impfstoff von Biontech, kann aber mit weniger Aufwand gelagert werden und ist deutlich günstiger.
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