Eine kleine, runde Metallscheibe kann Leben retten. Als an Rhein und Ruhr noch die Zechen laufen und Tag für Tag tausende Bergleute in die Dunkelheit hinunterfahren, hat jeder von ihnen so eine Scheibe. Zum Schichtende hängen die Kumpel ihre Erkennungsmarke an einen Nagel – als Zeichen dafür, dass alle gesund wieder oben angekommen sind. Heinrich „Heinz“ Laschet ist einer von ihnen. Auch Jahrzehnte später trägt er die Marke noch am Schlüsselbund, bis heute.
Sie wird für ihn zum Symbol dafür, dass es unter Tage egal ist, wo die anderen herkommen – solange man ihnen vertrauen kann. Als Armin Laschet beim CDU-Parteitag am Ende seiner Bewerbungsrede neben das Pult tritt und die Marke seines Vaters mit der Nummer 813 aus der Hosentasche zieht, ist die Sache fast gelaufen.
Der 59-Jährige hat es an diesem Tag gleich mit mehreren Gegnern zu tun. Nicht alle sieht er kommen. Der erste ist er selbst. Wird es ihm gelingen, auf der viel zu großen Bühne in einem viel zu leeren Saal eine Rede zu halten, die begeistert? Die alle Zweifel wegwischt, ob er der Richtige für ganz oben ist, für die Parteispitze, vielleicht auch das Kanzleramt? Der nette Herr Laschet, dem man so oft attestiert hat, ihm fehle der unbedingte Wille zur Macht? Er hat viel geübt, an seinen Worten gefeilt und das Spiel mit den Kameras geprobt. Er will nicht nur Sätze vortragen, sondern eine Geschichte erzählen.
Laschet besiegt schließlich alle Zweifel, indem er seine Stärke ausspielt und sich als Teamplayer in Szene setzt. Als einer, der Gräben überwinden will und den Laden zusammenhalten kann. Den Laden CDU, aber auch das ganze Land. „Deutschland braucht keinen CEO, keinen Vorstandsvorsitzenden, sondern einen Kapitän, der die Mannschaft zusammenführt“, sagt er. So versteht der Familienvater seine Rolle als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. So grenzt er sich zu seinem Rivalen Friedrich Merz ab, dem zweiten Gegner, den es an diesem Tag zu schlagen gibt.
Friedrich Merz verliert endgültig seinen Ruf als brillanter Redner
Der Sauerländer gilt als Managertyp, aber auch als Ich-AG. Und als brillanter Redner. Dieser Ruf umweht ihn seit den 90er Jahren. Doch offenbar waren die Ansprüche damals andere. Jedenfalls bleibt Merz auch auf diesem Parteitag seltsam blass. Womöglich hat ihn Laschets unerwartet starker Auftritt auch verunsichert. In Anspielung auf Merz, der sich gerne als Klare-Kante-Politiker bezeichnet, hatte er gesagt: „Polarisieren ist einfach, das kann jeder. Wir müssen Klartext sprechen, aber nicht polarisieren. Wir müssen integrieren können, eine Gesellschaft zusammenhalten.“ Eine rhetorische Glanzleistung bleibt Merz jedenfalls schuldig – und polarisieren wird er erst später, als der Parteitag schon beinahe zu Ende ist.
Der dritte Gegner kommt aus dem Nichts. Die Reden sind gehalten, auch Außenseiterkandidat Norbert Röttgen hat sich tapfer geschlagen. Die Macher des ersten digitalen Parteitags der CDU, der bis dahin übrigens ohne größeres Ruckeln abläuft, erteilen den Delegierten, die daheim in ihren Wohnzimmern sitzen, das Wort. In solchen Aussprachen schlägt die Stunde der Kommunalpolitiker, um sich auch mal auf der großen Bühne zu zeigen. Richtig viel Ertrag bringt das an diesem Tag nicht – zumal die Technik jetzt doch noch zur Hürde wird. Ein Herr Adams zum Beispiel erscheint lächelnd auf dem Bildschirm, im Hintergrund summt leise ein Drucker, aber Herr Adams hört nichts – und fragt folglich auch nichts. Immerhin wird er damit zum heimlichen Liebling der twitternden Parteitagsbeobachter. Auch Jens Spahn fragt nichts. Und genau das wird zum Problem.
Der Gesundheitsminister, der auf eine eigene Kandidatur verzichtet hatte und im Team mit Armin Laschet angetreten ist, war in dieser Runde nicht zu erwarten. Was er sagt, ist eigentlich ziemlich langweilig. Das übliche Politikerding, Teamgedanke und so. Dass er aber überhaupt in dieser Form Werbung für Laschet macht, lässt den Blutdruck steigen – zumindest bei den Anhängern von Friedrich Merz.
Normalerweise sitzen die Delegierten auf einem solchen Parteitag in einem großen Saal zusammen und ziehen sich in kleineren oder größeren Gruppen zurück, um die Lage zu sondieren. Auf den Gängen und in Hinterzimmern wird dann besprochen, wer wen aus welchen Gründen unterstützt, und im Zweifel auch, was man als Dank für diese Unterstützung herausschlagen kann. Weil das diesmal nicht geht, tauscht man sich in Chatgruppen aus. Und da kocht die Volksseele. Von „Roter Karte“ ist die Rede und von „Trickserei“. Und im Laschet-Lager ärgert man sich darüber, dass die Merz-Leute daraus bestimmt wieder eine Dolchstoßlegende stricken werden. Hintergrund: Nach dem Parteitag 2018, als ihr Mann im Duell mit Annegret Kramp-Karrenbauer unterlag, machten nachher Gerüchte die Runde, man habe Merz absichtlich das Mikrofon leiser gedreht, um ihn zu schwächen.
Spahn selbst wird später noch seinen Preis für die unbedachte Wortmeldung bezahlen, doch in diesem Moment stehen andere Fragen im Raum. War das mit Laschet abgesprochen? Hat er ihm damit vielleicht sogar geschadet? Laschet selbst wird nachher beteuern, er habe gewusst, dass Spahn sich zu Wort melden wolle. Aber ihm war offenbar nicht klar, was sein Co-Bewerber da sagen würde. Selbst Leute, die mit dem Gesundheitsminister befreundet sind, reagieren irritiert. Peinlich sei das gewesen, und außerdem habe Spahn damit ohne Not sein früheres Image bedient, das er in der Corona-Krise beinahe losgeworden war. Das Image eines Mannes, dem es in allererster Linie um sich selbst geht.
Jens Spahns Kurzauftritt treibt den Blutdruck nach oben
Dazu muss man wissen, dass der ehrgeizige Minister in den Wochen vor dem Parteitag seine eigenen Chancen auf eine Kanzlerkandidatur ausgelotet hatte. Dummerweise kam das an die Öffentlichkeit. Wollte er nun auf eher brachiale Art belegen, dass er immer noch im Team Laschet spielt? Oder ist schlicht sein Ego mit ihm durchgegangen? So viel ist sicher: Die Szene wird noch eine Rolle spielen, wenn es eines Tages um Spahns Befähigung für höhere Ämter gehen sollte. Die Merz-Anhänger bekommen noch am selben Tag die Chance auf eine Retourkutsche: Bei der Wahl zu den stellvertretenden Parteivorsitzenden kassiert Spahn trotz seiner eigentlich gewachsenen Popularität das schlechteste Ergebnis aller Kandidaten. Am Sonntag entschuldigt er sich kleinlaut.
Ob das Manöver Laschet Stimmen gekostet oder gebracht hat, lässt sich schwer beantworten. Aufhalten kann es ihn jedenfalls nicht. Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Merz im ersten Wahlgang steht um kurz vor halb zwölf Uhr fest, dass er neuer Parteivorsitzender wird. Mit 521 zu 466 Stimmen lässt er seinen Gegner im zweiten Wahlgang hinter sich. Doch die letzte Schlacht dieses Tages ist noch nicht geschlagen. Denn Merz erweist sich mal wieder als äußerst widerstandsfähig gegen Niederlagen.
Laschet bietet Merz einen Posten an - doch der Verlierer will mehr
Der Sieger bietet dem Unterlegenen einen Platz im CDU-Präsidium an, das im Anschluss gewählt wird. Doch Merz präsentiert noch im selben Gespräch eine ganz andere Idee. Als der Parteitag schon dem Ende entgegenplätschert, twittert er sie auch in die Öffentlichkeit: Er will Bundeswirtschaftsminister werden. Nicht irgendwann, sondern jetzt. Merz nennt das ein „Angebot“ – wohl wissend, dass er Laschet damit in Not bringt. Denn erstens ist der Posten von Peter Altmaier besetzt, mit dem sich der neue Parteichef gut versteht. Und zweitens entscheidet die Kanzlerin, ob sie ihr Kabinett umbauen will – und deren Verhältnis zu Merz ist, gelinde gesagt, kompliziert.
Soll Laschet nun etwa als erste Amtshandlung Angela Merkel überreden, dass sie seinen (und ihren) Rivalen Merz zum Minister befördert? Um den Laden zusammenzuhalten und, wie versprochen, auch den Wirtschaftsliberalen und Konservativen ein Angebot zu machen, müsste er es wohl tun. Doch die Kanzlerin nimmt Laschet die Entscheidung ab und lässt umgehend kühl vermelden, sie plane keinen Ministerwechsel
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Ob Merz spontan in die Offensive gegangen ist, ob er gleich mal Laschets Standhaftigkeit testen wollte oder schlicht zur Selbstüberschätzung neigt? Über die Art und Weise, wie er wenige Minuten nach der Wahlniederlage sein Comeback einfädeln wollte, schütteln sogar Leute den Kopf, die es gut mit ihm meinen. Schließlich hat der Sauerländer mit dem exakt gleichen Manöver schon Annegret Kramp-Karrenbauer kurz nach deren Wahl zur Parteivorsitzenden 2018 unter Druck gesetzt. Sie konterte damals trocken, sie habe im Kabinett nachgezählt und es sei momentan kein Platz frei. Doch ihrer Autorität hat es nicht geholfen, dass Merz seine Niederlage nicht akzeptieren wollte. Wiederholt sich nun die Geschichte?
In Laschets Umfeld brodelt es. Er selbst gibt sich abends im ZDF betont entspannt. Er hätte seinen Mitbewerber ja gerne eingebunden. Doch einen Sitz im Parteipräsidium habe dieser abgelehnt und mehr gebe es momentan nicht zu entscheiden. Ob die Debatte damit erledigt ist? Unwahrscheinlich. Das Merz-Lager droht ein schwer kalkulierbarer Unruheherd zu bleiben. Laschet weiß, dass er mit diesem Teil der Partei einen Dialog finden muss. Schließlich geht es auch um eine Richtungsentscheidung in diesem Superwahljahr.
Schon Mitte März stehen Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an. Verfehlt die CDU dort ihre Ziele, könnte das dem neuen Vorsitzenden angekreidet werden. Die guten bundesweiten Umfragewerte für die Union wiederum gehen zu einem großen Teil aufs Konto der Kanzlerin, während Laschet in Sachen Popularität bislang unter ferner liefen rangiert. Ist der CDU-Chef der richtige Kanzlerkandidat, um seiner Partei auch ohne Merkel-Bonus die Macht zu sichern? Und was sagt Markus Söder dazu?
In der Corona-Krise hat sich Armin Laschet über Markus Söder geärgert
Der CSU-Vorsitzende ist als nächster Gegner schon am Horizont zu erahnen. Das fängst schon mit der Frage an, wann die Schwesterparteien entscheiden, wen sie als gemeinsamen Spitzenkandidaten in die Bundestagswahl schicken. Laschet drückt eher aufs Tempo, Söder auf die Bremse. Wird der Bayer dem Rheinländer so einfach das Feld überlassen? Die beiden Ministerpräsidenten verstehen sich eigentlich gut, auch wenn das Verhältnis in der Corona-Krise ein paar Schrammen bekommen hat. Laschet nahm es dem Kollegen aus Bayern übel, dass der immer wieder gegen den rheinischen Karneval als vermeintlichen Corona-Hotspot stichelte. Auch das Hofhalten für die Kanzlerin auf Herrenchiemsee kam im Laschet-Lager gar nicht gut an.
Söder betont zwar stets, sein Platz sei in Bayern. Er ist aber eben auch ein Machtmensch durch und durch. Sollten seine Umfragewerte weiterhin so weit über denen von Laschet liegen, könnte er der Versuchung möglicherweise nicht widerstehen, nach dem Kanzleramt zu greifen.
Das erste Ziel hat Armin Laschet erreicht. Der Weg zum zweiten ist noch weit. Kann er die Lager in der Union zusammenführen? Wird er die Wähler, die der Kanzlerin nachtrauern, mit jenen versöhnen, die es gar nicht erwarten können, dass die Ära Merkel vorbeigeht? Beim Parteitag hat er zumindest gezeigt, wie das gehen könnte. Heinz Laschet hatte seinem Sohn nicht nur die Bergmannsmarke mit der Nummer 813 als Glücksbringer mitgegeben, sondern auch einen Rat: „Sag den Leuten, sie können dir vertrauen.“
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