Als sich AfD-Fraktionschef Alexander Gauland entschuldigt, hat er Mühe, die Zwischenrufe und Schreie zu übertönen. Sie stammen aus den Reihen von CDU, CSU, SPD, Linken, FDP und Grünen. Gauland bittet am Freitag um Entschuldigung dafür, dass am Mittwoch AfD-Abgeordnete Gegner der Seuchenpolitik in den Bundestag geschleust haben und diese dort Abgeordnete bedrängten, darunter Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Das sei "unzivilisiert und gehört sich nicht", sagte der 79-Jährige. "Dafür entschuldige ich mich als Fraktionsvorsitzender."
Barbara Hendricks: Die AfD hat den Ton im Bundestag verändert
Dieser kleine Ausschnitt aus dem Parlament illustriert, wie rau und unversöhnlich unter der Kuppel des Reichstags miteinander umgegangen wird. Seit die AfD vor drei Jahren einzog, ist alles anders. Sie hat den Lautstärkeregler aufgedreht und die anderen Fraktionen drehen ihn nicht wieder runter, sondern versuchen, mitzuhalten. Die SPD-Politikerin Barbara Hendricks erinnert in ihrer Rede während dieser extra anberaumten aktuellen Stunde zuerst an die gute alte Zeit, als es die AfD noch nicht gab. Hendricks ist das, was man ein Urgestein nennt. Seit über 25 Jahren ist sie Abgeordnete. Sie erzählt von Beleidigungen, die aus den Reihen der AfD kämen, gut verständlich aber nicht so laut, dass das Protokoll sie höre. Sie erzählt davon, dass sich Mitarbeiterinnen am späteren Abend nicht mehr in die Gänge wagten aus Angst vor Angriffen von Mitarbeitern oder Abgeordneten der AfD. "Wir wissen dies alles und wir müssen damit umgehen", sagt Hendricks. Der Satz, der folgt, bringt das Dilemma auf den Punkt. "Das ist leider nicht zu ändern."
Die Arbeit des Parlaments gründet sich in der politischen Theorie auf das freie Mandat der Volksvertreter. Sie sind von den Wählern bestimmt und können deshalb nicht aus dem Bundestag geschmissen werden. In der Praxis gründet sich die Arbeit des Parlaments aber genauso stark darauf, dass Abgeordnete und deren Mitarbeiter anständig miteinander umgehen. Diese Praxis ist seit der vergangenen Bundestagswahl empfindlich gestört. Nicht immer geht das auf das Konto der AfD. Im Juli warfen Klima-Aktivisten im Hohen Haus Flugblätter und forderten schreiend, das Kohleausstiegsgesetz zu verhindern, weil es zu lasch sei. Es ist kaum vorstellbar, dass die Aktivisten ohne die Hilfe von Sympathisanten ihren Weg in den Bundestag fanden. Der Protest und die Empörung bei Grünen, Linken und der SPD hielten sich in Grenzen. Anders als im aktuellen Fall bedrängten die Klimaschützer aber keine Abgeordneten persönlich.
Bundestagspräsident Schäuble prüft Ordnungsgelder gegen Helfer der Aktivisten
Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion wirft der AfD daher in seiner Rede vor, einen Angriff gegen das freie Mandat und einen Angriff auf die Demokratie zu fahren. Michael Grosse-Brömer gibt sich entschlossen. "Sie täuschen sich, Sie beeindrucken uns nicht." Tatsächlich ist die eigens anberaumte Aussprache ein Indiz für das Gegenteil. Die AfD hat die anderen Parteien im Bundestag tief erschüttert. Das bestätigt auch ein Schreiben von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) an alle Abgeordneten, das unserer Redaktion vorliegt. Darin spricht er von "vielfältigen Befürchtungen und Ängsten", die die Störer am Mittwoch ausgelöst haben.
Vor der Abstimmung bombardierten Gegner der Corona-Politik die Abgeordnetenbüros der Großen Koalition mit E-Mails, Schreiben und Anrufen. Sie bedienten sich damit eines Konzepts, das in den alten Tagen der Bundesrepublik im linken Spektrum erdacht wurde. In den Debatten im Plenarsaal setzt die Alternative für Deutschland auf verbale Eskalation und gewinnt dieses Spiel fast immer, weil sich die anderen Fraktionen mitreißen lassen. In den Ausschüssen fernab des Scheinwerferlichts sitzen sowohl engagierte als auch gelangweilte AfD-Abgeordnete.
Damit die AfD nicht noch einmal ungebetene Gäste einlädt, lässt Schäuble jetzt seine Verwaltung die Paragraphen studieren. Denkbar sind zum Beispiel Rügen und Ordnungsgelder gegen diejenigen Mitglieder, die den Gegnern der Corona-Politik Einlass gewährten. Außerdem lässt der CDU-Veteran prüfen, wie das Regelwerk nachgeschärft werden kann. In seinem Brief warnt er davor, dass eine Atmosphäre entstehen könnte, die eine freie Diskussion behindert. "Das dürfen wir im Bundestag nicht zulassen", betont der Bundestagspräsident. Erhalten haben seine Mahnung auch die Mandatsträger der AfD. Ihre Partei hat mit dem Kampf gegen die Corona-Politik ein neues Thema gefunden. In den Umfragen steht sie stabil bei der Marke von zehn Prozent. Das Klima im Parlament bleibt ungemütlich.
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