Herr Weber, in sechs Wochen ist Europawahl – doch Sie als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei sind vielen Wählern unbekannt. Ist das ein Problem?
Manfred Weber: Ganz ehrlich: Warum werden solche Umfragen nur für die Europa-Abgeordneten gemacht? Ich würde doch mal die Frage stellen, wie viele mancher Kollegen aus dem Bundestag – selbst die Minister – unbekannt sind. Katarina Barley von der SPD ist auch ganz frisch Bundesministerin. Ich würde gerne mal die Zahl kennen, wie viele Menschen in Bayern sie kennen.
Jetzt ist das nicht Ihr einziges Problem. Der Brexit zieht sich hin, es gibt Streit mit US-Präsident Donald Trump – fliegt Ihnen Ende Mai der Laden um die Ohren?
Weber: Es ist ernst. Das Wahljahr 2019 ist ein historisches Wahljahr. Bereits heute sind ein Drittel aller Abgeordneten Populisten und Nationalisten. Und das in einem Europäischen Parlament, das vor fünf Jahren gewählt wurde – also zu einer Zeit, als noch nicht Matteo Salvini in Italien regiert hat, als noch nicht Jaroslaw Kaczyski in Polen regiert hat, als Marine Le Pen in Frankreich noch nicht die Nummer eins in den Umfragen war. Wir könnten diesmal ein Europäisches Parlament bekommen, das ähnlich wie das britische Parlament immer nur Nein sagt und keinen Kompromiss mehr hinbekommt.
Wie viel Unsicherheit bringt die ständige Verschiebung des Brexits mit sich?
Weber: Wir kommen wegen der Brexit-Diskussionen gar nicht mehr dazu, die Zukunftsfragen Europas zu diskutieren. Erst diese Woche fand der EU-China-Gipfel statt – das interessiert gar keinen mehr. Die wirklichen Zukunftsfragen gehen unter wegen des Durcheinanders in Großbritannien. Das muss beendet werden. Wir brauchen wieder Kraft für die eigentlichen Themen.
Nun gibt es wohl eine Verschiebung des Brexits bis zum 31. Oktober. Die Briten werden dann an der Europawahl teilnehmen.
Weber: Wer austritt, kann nicht an der Beantwortung von Zukunftsfragen teilnehmen. Deshalb hoffe ich, dass es noch gelingt, vor der Europawahl Klarheit zu bekommen. Ich selbst habe mit dem früheren Premierminister David Cameron damals, als das Referendum bevorstand, weitere Sonderregelungen für Großbritannien angeboten. Das wurde ausgeschlagen. Irgendwann wird der Moment kommen, an dem sich die Briten entscheiden müssen: Entweder sie gehen mit aller Härte raus oder sie stimmen dem Brexit-Vertrag zu – oder sie nehmen den Austrittsantrag zurück. Denn diese Option gibt es ja auch noch. Ich sage aber auch: Nachdem die Parlamentarier in Großbritannien es nicht schaffen, einen Kompromiss zu finden, nachdem die Regierung unter Theresa May versagt hat, wäre in einer Demokratie der logische nächste Schritt, das Mandat zurückzugeben und ein zweites Referendum durchzuführen, in dem die Menschen noch einmal nach dem EU-Austritt gefragt werden.
Welche Zugeständnisse kann die EU den Briten noch machen?
Weber: Keine mehr.
Wenn Sie all diese Probleme innerhalb der EU sehen, macht Ihnen das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, das Sie anstreben, nicht manchmal Angst?
Weber: Wenn man sich um ein Mandat bewirbt, geht man mit Respekt an diese Aufgabe ran. Wer kandidiert, macht das ja nicht aus der hohlen Hand heraus. Ich habe mit vielen Freunden darüber gesprochen, auch mit der Kanzlerin und Horst Seehofer. Alle haben mir zugeraten. Das hat mich motiviert. Auch, dass ich mich in der Stichwahl für die Spitzenkandidatur gegen den finnischen Premierminister durchgesetzt habe, hat mich gefreut und angetrieben. Ich traue es mir zu und ich will dieses Amt. Und ein bisschen etwas Bayerisches kann in Brüssel nicht schaden.
Wie reagieren denn die Kollegen in Brüssel auf noch einen Deutschen, der was zu sagen hat?
Weber: Natürlich schwingt diese Frage immer mit. Aber viele Menschen sagen: Es ist uns egal, ob ein Deutscher an der Spitze steht – wichtiger ist, wofür er einsteht. Mein Ansatz ist es, den anderen erst einmal zuzuhören und nicht, auf den Tisch zu hauen. Ich habe meinen Wahlkampf bewusst in einem kleinen Land gestartet, in Zypern.
Nun hat aber ausgerechnet ihre Partei, die CSU, immer wieder mit Europa gehadert, hat gar das Ende des Multilateralismus ausgerufen. Wie passt das denn zusammen?
Weber: Der europakritische Wahlkampf der CSU vor fünf Jahren war strategisch ein Fehler. Für den haben wir mit dem Verlust von Mandaten bezahlt. Aber die CSU hat einen ganz klaren pro-europäischen Grundkurs.
Wenn die Wahl für die Union schlecht ausgeht, könnte das das Ende der Ära Angela Merkel sein. Wie groß ist der Druck, der auf Ihnen lastet?
Weber: Ich bin der Spitzenkandidat, das Wahlergebnis ist also erst einmal für mich entscheidend. So wichtig die Bundesregierung ist – jetzt geht es um das Amt des Kommissionspräsidenten, der für 440 Millionen Menschen auf diesem Kontinent spricht, der künftig zu Donald Trump fährt und Gespräche über die Handelspolitik führt. Die Wähler stimmen am 26. Mai über das Schicksal Europas ab. Es geht um verdammt viel – Europa ist wahrlich wichtig genug.
Wie kann man den Menschen die EU näherbringen?
Weber: Wir müssen der Europäischen Union endlich ihre Erfolge gönnen. Uns geht es wirtschaftlich so gut wie noch nie zuvor. Wir haben die Flüchtlingszahlen um 95 Prozent reduziert. Was uns fehlt, ist das Verständnis für die anderen. In der Migrationsfrage fordern viele, dass die Ungarn eine bestimmte Quote an Flüchtlingen aufnehmen. Da muss ich sagen: Bis 2015, als die Flüchtlinge in Deutschland ankamen, hat die Bundesregierung jede Forderung nach einer Quote kategorisch abgelehnt. Damals hätte das nämlich bedeutet, dass wir freiwillig Flüchtlinge aus Griechenland oder Italien aufnehmen. Deutschland hat über Jahrzehnte hinweg die gleiche Position eingenommen wie das heute Polen und Ungarn tun. Auch wir werden lernen müssen, die Probleme der anderen zu sehen.
Wie geht es weiter in der europäischen Flüchtlingsfrage?
Weber: Zwar sind die Außengrenzen inzwischen relativ sicher. In der Ägäis kommen kaum mehr Menschen an. Aber die Sorge, dass sich die Flüchtlingskrise wiederholen könnte, bleibt. Wir müssen zwei Seiten zusammenbringen: Die EU muss ihre Grenzen mit allen Mitteln sichern. Nicht Schlepperbanden oder die Mafia entscheiden, wer nach Europa kommt, sondern der Staat entscheidet. Mit der gleichen Entschiedenheit sage ich aber auch: Europa ist ein Kontinent der Humanität, den wir nicht komplett abriegeln können. Wir müssen aus den Flüchtlingslagern bestimmte Kontingente in Europa aufnehmen und versorgen. Ich möchte weiter hilfsbereit sein und ich bin zutiefst überzeugt, dass auch die Mehrheit der Europäer zu Hilfe bereit ist.
Einer, der die Flüchtlingspolitik der EU stark kritisiert, ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Warum ging die EVP so spät auf Distanz zu ihm?
Weber: Viktor Orbán war bis zum vergangenen Sommer zwar ein provokanter Politiker, der auch Grenzen ausgetestet hat. Aber er war immer wieder bereit, einen Schritt zurückzugehen und die Rechtslage zu akzeptieren. Das hat sich geändert. Ich habe ihn als einen Politiker erlebt, der nicht mehr bereit ist nachzugeben. Vor wenigen Wochen haben wir Orbán alle Mitgliedsrechte für die EVP entzogen.
Aber wenn er seinen Kurs nicht ändert – wann fliegt Orbán aus der EVP?
Weber: Wir haben ihn suspendiert, er hat also keinen Einfluss mehr. Das ist ein klares und wichtiges Signal. Die Entscheidung, ob Viktor Orbán in der EVP bleiben kann, trifft Herman van Rompuy, der ehemalige Präsident des Europäischen Rates. Die schwierigere Frage ist doch ohnehin, wie es dann weitergeht. Nehmen Sie das Beispiel Polen. Kaczynski ist in keiner Parteienfamilie mehr, wir haben gar keinen Punkt mehr, an dem wir andocken könnten. Bei ihm muss die EU ihre Sanktionsmöglichkeiten durchsetzen und EU-Gelder einfrieren. Es kann nicht sein, dass Länder, die die Regeln nicht einhalten, weiter Zugang zu den Fördergeldern haben.
Wo wir gerade bei schwierigen Männern sind: Wie stellen Sie sich ein erstes Treffen mit US-Präsident Donald Trump vor?
Weber: Die erste Frage ist sicher: Wie lange drückt man zur Begrüßung die Hände, da hat Emmanuel Macron ja schon seine Erfahrungen machen müssen. Aber Spaß beiseite: Die Grundsatzfrage im Kontakt mit allen Partnern ist doch, ob Europa mit einer Stimme sprechen kann. Wenn Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien in einer Sache jeweils unterschiedliche Positionen vertreten, brauche ich gar keine Gespräche mit Trump zu führen. So machen wir uns doch zum Spielball. Vor allem in Handelsfragen müssen wir Einigkeit demonstrieren. Dann kann ich zu Donald Trump fliegen und ihm sagen: Wir sind bereit, über die Abschaffung von Industriezöllen zu sprechen, aber die Voraussetzung ist, dass wir auf Augenhöhe miteinander reden. Wenn die USA einseitig Zölle auf Autos verhängt, wird Europa gleichwertig antworten. Meine Botschaft ist: Erpressen lässt sich Europa nicht.
Ob das Trump überzeugt?
Weber: Wenn man sich die Handelsbilanz anschaut, sieht man, dass Amerika den Handelskrieg gegen China leicht gewinnen kann, weil China in den USA mehr Waren verkauft als die USA umgekehrt in China. Amerika sitzt also am längeren Hebel. Die Bilanz zwischen Europa und Amerika ist hingegen ausgewogen, wenn ich Handel und Dienstleistungen zusammenrechne.
Erst jetzt hat die EU den Weg für Gespräche über ein Handelsabkommen mit den USA geebnet. Wie finden Sie das?
Weber: Ich finde das sehr gut. Wir haben in Deutschland keine gute wirtschaftliche Zukunft, wenn wir nicht auch Handelsverträge mit dem Rest der Welt abschließen. Donald Trump baut lieber Mauern auf, sowohl gegen Migranten aus Mexiko als auch in Handelsfragen mit Europa und China. Ich sage: Wenn Donald Trump Mauern aufbaut, muss ich als Europäer weiter Brücken aufbauen. Die Sozialdemokraten und die Grünen im Europäischen Parlament haben hingegen dem Mandat für die Handelsgespräche mit Amerika ihre Zustimmung verweigert. Sie wollen nicht, dass wir mit den USA über die Abschaffung von Zöllen reden.
Immer wieder werden Befürchtungen laut, dass Russland über soziale Netzwerke die Europawahl beeinflussen könnte. Wie geht die EU damit um?
Weber: Wir müssen das Bewusstsein stärken, dass man den sozialen Medien nicht alles glauben sollte. Der mündige Bürger spielt eine zentrale Rolle in einer freien Gesellschaft. Trotzdem ist der Staat gefordert. Ich glaube, dass in den nächsten Jahren eine ganz große Frage im Raum stehen wird: Können wir der digitalen Welt den europäischen Stempel aufdrücken? Ich möchte nicht in einer digitalen Welt leben, wo nur das Gesetz des Wilden Westens gilt.
Kann man die digitale Welt überhaupt regulieren?
Weber: Der Staat kann natürlich eine Regulierung aufstellen. Facebook verdient Milliarden in Europa, da erwarte ich auch, dass sie die Spielregeln gefälligst anwenden. Der Staat entscheidet, was in Europa gilt und nicht Konzerne aus Amerika.