Herr Braun, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat verkündet, dass schon ab Ende Mai/Anfang Juni die Impf-Priorisierung fallen soll – das ist deutlich schneller als erwartet. Ist das die Nachricht, auf die Deutschland gewartet hat?
Helge Braun: Wir bekommen momentan wirklich von Woche zu Woche mehr Impfstoff. Augenblicklich wird die dritte Priorisierungsgruppe in vielen Ländern aufgerufen, also die 60- bis 70-Jährigen und viele Berufsgruppen, die bisher noch nicht geimpft worden sind. Wenn die Hersteller so liefern, wie sie es uns versprochen haben, dann werden wir im Laufe des Mai so viel Impfstoff bekommen, dass wir wirklich allen, die eine Priorisierung haben, ein Impfangebot machen können. Und dann kann ab Juni begonnen werden, über Betriebsärzte und Hausärzte die breite Bevölkerung zu impfen. Das heißt aber nicht, dass dann ab Anfang Juni schon genug Impfstoff für alle da ist. Es bleibt aber dabei, dass wir bis Sommer jedem ein Impfangebot machen können.
Erfüllt sich also das Versprechen von Angela Merkel, dass bis zum September jedem ein Impfangebot gemacht wird, früher?
Braun: Dieser Termin kann gehalten werden, da bin ich sehr zuversichtlich. Wann wir wirklich einmal durch sind mit Erst- und Zweitimpfungen, hängt aber noch von einem anderen Faktor ab, nämlich der Impfbereitschaft der Bevölkerung. Wenn wir die Corona-Pandemie richtig besiegen wollen, brauchen wir eine hohe Impfbereitschaft in der Bevölkerung. Und je mehr Leute impfbereit sind, desto länger werden wir natürlich dann auch brauchen.
Die Impfbereitschaft liegt in Deutschland unter 70 Prozent – wie soll die in den nächsten Wochen und Monaten nach oben gehen?
Braun: Wir werden sehr dafür werben, dass viele Leute mitmachen. Denn es gibt ja auch Gruppen in unserer Gesellschaft, die können sich momentan noch gar nicht impfen lassen. Dazu gehören zum Beispiel Kinder und Schwangere. Um die zu schützen, ist es eben nicht nur eine Frage, dass ich mich impfen lasse, um mich zu schützen, sondern um die ganze Gesellschaft zu schützen. Und je schneller und je mehr Leute mitmachen, desto eher kehren wir zur Normalität ohne Beschränkungen und andere Regeln zurück. Bei einer klassischen Grippeimpfung bleiben wir häufig deutlich unter 50 Prozent. Mit so einer Impfquote könnte man die Corona-Pandemie nicht besiegen.
Um den Impffortschritt zu beschleunigen, will sich Deutschland ein Vorkaufsrecht für den russischen Impfstoff Sputnik sichern. Kennt man keine ideologischen Scheuklappen mehr?
Braun: Impfstoffbeschaffung ist keine ideologische Frage, sondern eine Frage der Arzneimittelsicherheit. Und deshalb haben wir generell ein Interesse an Impfstoffen, die in Europa zugelassen sind. Das gilt momentan für den Sputnik-Impfstoff noch nicht. Aber die Tatsache, dass wir spürbar merken, dass wir schneller werden, liegt ohnehin auch daran, dass wir die Produktionskapazitäten in Europa deutlich hochfahren. Seit wenigen Wochen ist das Werk von Biontech in Marburg dabei, Impfstoffe auszuliefern, deshalb steigen die Zahlen der Lieferungen deutlich an. Es war uns immer klar: Im ersten Quartal haben wir noch wenig Impfstoff, im zweiten wird es besser und im dritten haben wir dann so viel, dass wir wirklich allen ein Angebot machen können.
In Deutschland wurden viele Impfstoffe erfunden, trotzdem kommen andere Länder schneller voran. Das frustriert viele Menschen. Verstehen Sie das?
Braun: Es gibt tatsächlich einige Länder, die eine bessere Impfstoffversorgung haben als wir in Europa. Hätten wir den gleichen Weg gehen können wie die? Wir haben uns sehr früh entschieden, dass wir in Deutschland aus unserem Werteempfinden heraus gemeinsam mit Europa bestellen. Europa ist ein Riesenkontinent, der sehr viel Impfstoff braucht. Deshalb sind wir nicht die Schnellsten, aber wir werden in den nächsten Wochen sehr viel aufholen.
Einige Bundesländer, unter anderem Bayern, haben den Impfstoff von AstraZeneca für alle Altersgruppen freigegeben – wer will, kann sich damit impfen lassen. Finden Sie das richtig?
Braun: Ich begrüße das. Die Bundesländer und die Impfzentren vor Ort sehen ja, ob bei ihnen der Impfstoff gut verimpft wird oder etwas liegen bleibt. Wichtig ist, dass wir das, was geliefert wird, auch schnell verimpfen. Wenn dadurch, dass man die Priorisierung fallen lässt, jetzt in den Hausarztpraxen AstraZeneca schneller verimpft wird, dann ist das sehr, sehr gut. Das ist ein guter und sicherer Impfstoff. Man muss einmal mit demjenigen, der sich impfen lassen will, darüber reden, ob er eine besondere Thromboseneigung hat. In so einem Fall würde man das nicht empfehlen, aber ansonsten kann der Arzt entscheiden. Das begrüße ich.
Verstehen Sie die Bedenken vieler Menschen gegenüber AstraZeneca?
Braun: Gerade weil die Medizin so gewissenhaft ist und auch kleine Risiken versucht zu minimieren, nehmen viele Menschen Risiken deutlich größer wahr. Auch Menschen, die einen ganz ungesunden Lebenswandel haben, machen sich Sorgen, weil sie einmal eine Röntgenaufnahme machen lassen sollen, und haben Angst, dass sie davon Krebs bekommen. Obwohl sie vielleicht rauchen. Das ist in der Gesellschaft ganz normal. Es ist die Aufgabe von Ärzten, das Risikoverhältnis zu erklären und deutlich zu machen, dass Impfstoffe, die in Europa zugelassen sind, ein sehr hohes Sicherheitsniveau haben.
Wie könnte das Impfen konkret ablaufen, wenn die Priorisierung Anfang Juni aufgehoben wird? Ist das dann Sache der Hausärzte?
Braun: Die Hausärzte haben zu Beginn sehr wenige Impfdosen erhalten. Je mehr Impfstoff da ist, umso mehr werden sie bekommen. Aber auch alle Fachärzte werden bald an den Impfungen teilnehmen. Und es gibt in Deutschland 8000 Betriebsärzte in den großen Unternehmen, die eine große Rolle etwa bei den jährlichen Grippeimpfungen spielen. Auf diese Weise werden wir auch die hohen Zahlen bewältigen können. Im Juni kann man damit rechnen, dass wir pro Woche acht Millionen Impfdosen bekommen.
Am Montag findet ein Impfgipfel im Kanzleramt statt, dort soll es um Privilegien für Geimpfte gehen. Wie können die aussehen?
Braun: Von Privilegien kann man nun wirklich nicht sprechen. Grundrechte sind Grundrechte. Das Privileg ist, dass manche Leute früher geimpft werden. Das ist ein Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite gibt es Menschen, die geimpft sind, auf der anderen Seite gibt es jene, die sich gerne impfen lassen würden, die aber noch nicht dran sind. Das müssen wir abwägen. Es gibt ja jetzt schon Vorteile: Das Robert-Koch-Institut hat festgelegt, dass Geimpfte, die Kontakt zu Kranken haben, nicht in Quarantäne müssen. Geimpfte müssen auch an den Schnelltestprogrammen ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr teilnehmen. Wer geimpft ist, muss ein Stück weit anders behandelt werden.
Schaut die Politik inzwischen mehr auf die Umfragen als auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Corona?
Braun: Ich habe eher das Gefühl, dass man gar nicht auf die Umfragen geschaut hat. Ich habe immer dafür geworben, dass wir eher schärfere Maßnahmen machen. Mit niedrigeren Infektionszahlen haben wir weniger Schwerkranke, weniger Todesfälle – das ist ein Wert. Der internationale Vergleich zeigt außerdem, dass bei niedrigen Infektionszahlen die wirtschaftliche Entwicklung besser ist. Das kann man gut an China sehen, dem Ursprungsland der Pandemie. Umfragen haben gezeigt, dass Menschen mehrheitlich gesagt haben, die Maßnahmen seien in Ordnung oder könnten sogar noch schärfer sein. Zugleich verstehe ich es, dass es in einem freiheitlichen Rechtsstaat wie Deutschland sehr viele gibt, die sich schwertun, wenn Grundrechte eingeschränkt werden. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass wir zeitweilig entschiedener vorgegangen wären.
Sie arbeiten seit Monaten an der Belastungsgrenze. Denken Sie manchmal drüber nach, alles hinzuwerfen?
Braun: Nein, darüber denke ich nicht nach. Ich habe als Arzt in der Notfallmedizin gearbeitet. Früher, wenn Leute gesagt haben, dass man als Kanzleramtsminister bestimmt viel arbeiten muss, habe ich immer geantwortet: Ja, aber so anstrengend wie die Schichtdienste auf der Intensivstation wird es nicht. Das hat sich in den letzten Wochen ein wenig verändert. Für eine solche Krise gibt es auch keine Blaupause, wir sollten nicht so tun, als wäre immer sonnenklar, was zu machen ist. Wir sehen die Belastung im Gesundheitssystem, wir sehen die Kranken, wir sehen Menschen, die an Corona sterben, wir sehen Unternehmer, die zuschauen, wie ihr Eigenkapital schwindet. Das ist eine besondere Belastungssituation für jeden im Land. So geht es mir natürlich auch. Die Arbeitsbelastung ist hoch. Aber ich habe diese Verantwortung gerne übernommen und ich habe einen großen Ehrgeiz, dass Deutschland im Ergebnis besser durch die Krise kommt als viele andere Länder. Dafür bin ich auch bereit, weiter nicht nur wochentags, sondern auch am Wochenende viel zu arbeiten.
Wann war denn Ihr letztes freies Wochenende?
Braun: Der letzte freie Tag, an dem ich einmal nicht telefoniert habe, war der erste Weihnachtsfeiertag. Normalerweise ist Weihnachten in der Politik eine Zeit, in der gar keiner auf die Idee kommt, einen Termin zu machen oder wegen einer fachlichen Frage anzurufen. Doch wir hatten an Weihnachten hohe Infektionszahlen, eine schlimme Lage in den Pflegeheimen – ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag mussten wir also wieder rund um die Uhr arbeiten. So etwas wie Wochenende oder ein Osterfest hat es dieses Jahr nicht wirklich gegeben.
Wer arbeitet länger: die Kanzlerin oder Sie?
Braun: Da sind wir beide weit vorn. Mal kommt die Kanzlerin früher aus dem Büro, mal ich. Der Chef des Kanzleramts muss ja der Kanzlerin auch den Rücken freihalten. Das heißt, mit einer leichten Tendenz ist es wohl so, dass der Allerletzte, der das Kanzleramt verlässt, Helge Braun ist …
Angela Merkel hat jüngst kritisiert, dass vieles in Deutschland im Argen liege. Ist das nicht eine bittere Erkenntnis – sie war schließlich selbst 16 Jahre Kanzlerin.
Braun: Also die Vorstellung, dass jemand seine Kanzlerschaft beendet und sagt: Eigentlich können wir auf einen Nachfolger verzichten, weil ich die Bundesrepublik so großartig aufgestellt habe, dass kein Zukunftsprojekt mehr übrig geblieben ist, diese Vorstellung ist falsch. Gesellschaften sind dynamisch. Wir haben mit Angela Merkel eine großartige Wirtschaftskraft entfaltet, wir haben große Krisen wie die europäische Finanzkrise und die Flüchtlingskrise durchgestanden. Deutschland hat sich in der Zeit sehr gut entwickelt. Die Kanzlerschaft von Angela Merkel ist ein großer Erfolg. Und wenn wir in die Zukunft schauen, gibt es trotzdem viele Projekte, die angegangen werden müssen: Digitalisierung, Klimawandel, der technologische Wandel, Mobilität. Deshalb hört Politik nie auf.
Die Suche nach einem neuen Kanzlerkandidaten hat tiefe Risse innerhalb der Union offenbart. Viele Deutsche trauen Armin Laschet das Kanzleramt nicht zu. Ist das ein verpatzter Start?
Braun: Wir hatten zwei starke Ministerpräsidenten, die uns zur Verfügung standen und bereit waren, als Kanzlerkandidaten der Union aufzutreten. Das ist eine große Stärke. Für mich ist es wichtig, dass wir jetzt einen Kanzlerkandidaten haben. Umfragen sind Momentaufnahmen, entschieden wird am Wahltag. Ich habe schon Zeiten erlebt, da war man Umfrage-Weltmeister – nur am Wahltag nicht. So soll es nicht laufen. CDU und CSU müssen jetzt stark in diesen Wahlkampf gehen. Ich bin da sehr zuversichtlich.
Zur Person: Helge Braun, 48, ist Chef des Bundeskanzleramtes. Der CDU-Politiker ist ausgebildeter Intensivmediziner und Narkosearzt und gilt als einer der engsten Vertrauten von Angela Merkel in dieser Krise.
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