Ein Schuss ist laut, blutig, auffällig. Etwas Gift in den Tee gerührt ist dagegen unsichtbar und lautlos – zumindest solange bis das Opfer vor Schmerzen schreit. So erlebte es auch Alexej Nawalny, kurz nachdem er am Flughafen eine Tasse Tee getrunken hatte und kurz bevor er im Flugzeug vor Schmerzen zusammenbrach und nach einer Notlandung bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der Fall des Kreml-Kritikers ist kein Einzelfall: In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Regierungsskeptiker mit Vergiftungssymptomen behandelt. Dabei weisen nicht nur die Krankheitsbilder, sondern auch die offiziellen Statements von russischer Seite unübersehbare Ähnlichkeiten auf.
Journalisten, Politiker, Agenten - die Liste der Opfer ist lang
In der ersten Amtszeit des Präsidenten Wladimir Putins, im Jahre 2003, starb der Journalist und liberale Abgeordnete des russischen Unterhauses, Duma Juri Schtschekotschichin, unter ungeklärten Umständen. Wie Nawalny engagierte er sich gegen Korruption und organisierte Verbrechen in Russland. Nach seinem Tod bekamen nicht einmal die engsten Angehörigen Einsicht in die medizinischen Akten. Die Behörden wiesen den Verdacht auf Vergiftung zurück. Es hieß, Schtschekotschichin habe eine heftige allergische Reaktion erlitten.
Journalisten und Zeichner als Ziele von Anschlägen
Januar 2015: Die Brüder Chérif und Saïd Kouachi stürmen in Paris die Redaktionsräume des religionskritischen Satiremagazins «Charlie Hebdo». Sie erschießen zwölf Menschen, darunter neun Journalisten. Zu den Toten zählt auch der unter dem Künstlernamen Charb bekannte Zeichner und Chef des Magazins, Stéphane Charbonnier. Im Zuge der Fahndung erschießt die Polizei zwei Tage später das Bruderpaar.
Februar 2013: Der 70 Jahre alte dänische Journalist Lars Hedegaard übersteht in Kopenhagen ein Attentat unverletzt und kann den unbekannten Täter selbst in die Flucht schlagen. Zuvor hatte eine Pistolenkugel den Kopf des Islamkritikers knapp verfehlt.
November 2011: Unbekannte verüben einen Brandanschlag auf die Redaktion des französischen Satireblattes «Charlie Hebdo». Es brachte am gleichen Tag ein Sonderheft zum Wahlerfolg der Islamisten in Tunesien heraus und hatte sich dazu in «Scharia Hebdo» umbenannt. Als Chefredakteur war «Mohammed» benannt worden.
Mai 2011: Ein Kopenhagener Gericht verurteilt den Tschetschenen Lors Dukajew für einen versuchten Anschlag auf die Zeitung «Jyllands-Posten» zu zwölf Jahren Haft. Der 25-Jährige hatte sich 2010 in Kopenhagen bei der Explosion seines Sprengstoffes verletzt. Er wollte eine Briefbombe an die Redaktion der Zeitung schicken.
Mai 2010: Zwei Männer werfen Benzinflaschen durch ein Fenster in das Haus des schwedischen Mohammed-Karikaturisten Lars Vilks. Auf den Zeichner wurde bereits 2007 im Internet von einem El-Kaida-Ableger im Irak ein Kopfgeld von 150 000 Dollar ausgesetzt.
Januar 2010: Der dänische Zeichner Kurt Westergaard, von dem die Mohammed-Karikaturen in «Jyllands-Posten» stammen, entkommt nur knapp einem Attentat. Bereits 2008 hatten die dänischen Behörden Mordpläne gegen ihn aufgedeckt. Mehrere Verdächtige wurden festgenommen.
November 2004: Der niederländische Islamkritiker Theo van Gogh bezahlt einen Film über die Unterdrückung der Frauen im Islam mit dem Leben. Er wird in Amsterdam von einem muslimischen Extremisten ermordet. Auf der Leiche hinterließ der Täter einen Brief mit Morddrohungen gegen weitere Niederländer.
Ein Jahr später erkrankte die Investigativ-Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja schwer, nachdem sie eine Tasse Tee getrunken hatte. Für eine regierungskritische Zeitung schrieb Politkowskaja unter anderem über Menschenrechtsverletzungen im zweiten Tschetschenienkrieg Russlands. Sie erholte sich von dem mutmaßlichem Giftanschlag. 2006 wurde sie dann in Moskau vor ihrer Wohnung erschossen.
„Die Sicherheitsdienste lieben Gift“
Kurz nach Politkowskajas Ermordung starb der russische Ex-Geheimagent Alexander Litwinenko an einer Vergiftung durch radioaktives Polonium. Nach seiner Arbeit als Agent beim FSB, der Nachfolgeorganisation des Geheimdienstes KGB, war er zu einem harten Kritiker Putins geworden und schließlich nach London ins Exil geflohen. Dort arbeitete er später beim britischen Geheimdienst MI6. Zehn Jahre nach seinem Tod urteilte ein britischer Richter, dass Putin die Ermordung „wahrscheinlich gebilligt“ habe.
Der Journalist und Oppostionnelle Wladimir Kara-Mursa wurde gleich zweimal mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus gebracht. Das erste Mal, 2015, erlag er beinahe einem plötzlichen Nierenversagen. Das war kurz nachdem der Oppositionspolitiker Boris Nemzow, für den Kara-Mursa als Berater arbeitete, in Moskau erschossen wurde. Im Februar 2017 wurde Kara-Mursa mit ähnlichen Symptomen in die Intensivstation eingeliefert und ins künstliche Koma versetzt. Die Ursache war laut seinem Anwalt der „toxische Einfluss einer unbekannten Substanz“. Beide Male überlebte Kara-Mursa mit viel Glück. Er sagte in der Zeit: „Die Sicherheitsdienste lieben Gift, denn sie können mit den Schultern zucken und sagen: Wo sind die Beweise? Wir wissen nicht, was mit Ihnen los ist. Vielleicht was Falsches gegessen? So läuft es jedes Mal.“
Ein Nervengift wie Nowitschok ist schwer nachzuweisen
Für viel Aufsehen sorgte auch die Geschichte von Sergej Skripal, der zusammen mit seiner Tochter im März 2018 bewusstlos auf einer Parkbank in England aufgefunden wurde. Skripal arbeitete als Doppelagent für Russland und Großbritannien. Wie nun aktuell auch Nawalny waren Skripal und seine Tochter mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden – die beiden entgingen damals nur knapp dem Tod. Der Kampfstoff zählt zu einem der tödlichsten überhaupt und wurde in den 1970er und 80er Jahren in der Sowjetunion entwickelt. Die Spuren des Mordversuchs führten nach Russland – dort wies man jegliche Beschuldigungen als „russophobe Attacken“ ab.
Gerade ein Nervengift wie Nowitschok sei sehr schwer nachzuweisen, sagt Alena Epifanova, Russlandexpertin der Deutschen Gesellschaft für Internationale Politik. „Auch im Fall Nawalny steht die Aussage der Ärzte der Charité gegen die Aussage der russischen Ärzte. In den staatlichen russischen Medien wird zudem der Verdacht geschürt, dass die Vergiftung erst in Berlin geschehen sei.“ Aktivist Pjotr Wersilow kam ebenfalls 2018 mit starken Anzeichen für eine Vergiftung in ein Moskauer Krankenhaus. Er wurde einige Tage später bewusstlos in die Berliner Charité ausgeflogen und dort behandelt. Nun hat sich Wersilow dafür eingesetzt, dass auch Nawalny diese Behandlung in Berlin ermöglicht wird. Er selbst wurde damals wahrscheinlich unter anderem wegen seiner Recherche über drei ermordete Journalisten in Afrika angegriffen.
„Niemand soll sich sicher fühlen“
Die Liste der Giftanschläge soll vor allem eines zeigen: „Niemand soll sich sicher fühlen, jeder könnte in eine ähnliche Falle geraten“, so Russlandexpertin Epifanova. Denn während das Gift dem Täter genug Zeit gibt, vom Tatort zu verschwinden, sieht die Familie das Opfer leiden. Doch „nicht nur die Angehörigen sollen dadurch Angst bekommen, sondern auch alle anderen, die Kritik an der russischen Regierung üben“.
Tatsächlich ist diese Machterhaltungsmethode aber nicht nur in Russland bekannt: Im Februar 2017 wurde der Halbbruder des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un in Malaysia mit dem chemischen Kampfstoff VX ermordet – ursprünglich galt er als erster Anwärter für die Nachfolge des Vaters.
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