Alexej Nawalny gilt als einziger Kontrahent, der Wladimir Putin gefährlich werden könnte. Doch nun liegt der liberale Kreml-Kritiker mit einer lebensbedrohlichen Vergiftung in der Berliner Charité. Der mutmaßliche Anschlag auf den Oppositionspolitiker hat das Zeug dazu, die ohnehin schon zerrütteten deutsch-russischen Beziehungen, aber auch generell das Verhältnis zwischen Moskau und der Europäischen Union vollends zu ruinieren. Wenn die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gewöhnlich nicht zur Dramatik neigt, Sätze sagt wie "Ein versuchter Giftmord sollte ihn zum Schweigen bringen"; wenn der knorrige Grünen-Politiker Jürgen Trittin von einer "perversen Revitalisierung sowjetischer Herrschaftsmethoden spricht", dann ist das keine politische Routine mehr.
Alexej Nawalny prangert mafiaähnliche Strukturen an
Wer also ist der Mann, der seit Jahren mafiaähnliche Strukturen in Russland anprangert? Der nach den tödlichen Schüssen von 2015 auf den lange Zeit bekanntesten Oppositionellen Boris Jefimowitsch Nemzow als der einzige politische Kopf gilt, der das intellektuelle und strategische Format besitzt, dem Regime die Stirn zu bieten?
Der Europaabgeordnete der Grünen, Sergey Lagodinsky, hat Nawalny 2010 in den USA kennengelernt: "Wir haben gemeinsam als ,World Fellows‘ an der US-Uni Yale ein Semester lang zusammengearbeitet." Ihn habe beeindruckt, wie fleißig und wie technisch versiert und innovativ Nawalny die technischen Möglichkeiten genutzt hat. Er habe ihn als sehr humorvollen Menschen erlebt. Aber eben auch als jemand, "der sehr starke Meinungen vertritt, die ich nicht alle teile. Also man kann sich auch gut mit ihm streiten."
Der Angriff auf Nawalny hat nicht überrascht
Überrascht habe ihn die Tat nicht, sagt Lagodinsky, der 1975 im südrussischen Astrachan geboren wurde. "Nawalny wurde ja bereits verhaftet, es gab einen Säureangriff auf ihn und sein Bruder saß lange im Gefängnis, in einer Art Geiselhaft für ihn. Aber die Nachricht hat mich menschlich sehr bewegt. Das ist für seine Familie eine menschliche Tragödie."
Fast schon legendär sind die kreativen Methoden, mit denen der 44-jährige Jurist und Finanzfachmann Nawalny die allgegenwärtige Verquickung zwischen Politik, Wirtschaft und Militär aufdeckt. Damit brachte der erklärte Liberale große Unternehmen, die in Russland schnell eine krakenähnliche Form annehmen, in ernste Bedrängnis und eine ganze Reihe von Oligarchen und Politiker zuverlässig zur Weißglut. So kaufte der Internetaktivist Aktien der Konzerne Gazprom oder Transneft, um Einsicht in die Bilanzen zu erhalten beziehungsweise einzuklagen. Tatsächlich führte Nawalny mit seiner als Stiftung organisierten Nichtregierungsorganisation "Fonds zur Korruptionsbekämpfung" erfolgreiche Prozesse. Regelmäßig erscheinen Videos für ein Millionenpublikum im Internet, in denen er prägnant, aber auch mit einer Prise Witz auf Missstände hinweist.
Nawalny legte die Korruptionsaffäre um den früheren Präsidenten Medwedew auf
Prominenter Leidtragender war immer wieder der frühere Präsident und Ministerpräsident Dmitri Anatoljewitsch Medwedew, der zwar im Schatten Putins kaum Macht hatte, aber zu sagenhaftem Reichtum gelangte. Es ist Nawalny zu verdanken, dass heute fast jeder über die Bestechungs- und Korruptionsaffären des Mannes im Bilde ist.
Nawalny nannte die Kremlpartei Vereintes Russland einmal "Partei der Gauner und Diebe". Das hätte auch anderen einfallen können. Der Punkt ist aber, dass der Ausspruch 2012 schnell zu einer Redewendung wurde – und zwar nicht nur, weil dieses Etikett für Putins Wahlverein so knapp wie eingängig ist, sondern in erster Linie, weil sie eben von Nawalny stammt.
Behörden verhinderten, dass Nawalny bei Wahlen antreten konnte
Doch das System schlug immer wieder unbarmherzig zurück. Die Behörden verhinderten nicht nur, dass Nawalny bei Wahlen antreten konnte, er landete auch regelmäßig vor Gericht und im Gefängnis. Es dürfte also eine ganze Reihe von einflussreichen Personen in Russland geben, die inständig hoffen, dass Alexej Nawalny nie wieder aus dem Koma erwacht, während seine Frau Julia, Tochter Daria und der kleine Sohn Sachar darauf setzen, dass die Berliner Ärzte das Leben des Ehemannes und Vaters retten können.
Etwas ruhiger geworden ist es um die Vorwürfe, dass der eloquente Politiker durchaus auch eine nationalistische Ader hat. Vor Jahren gefährdete er sein Renommee durch rassistisch eingefärbte Äußerungen, von denen er sich später immer wieder distanzierte. "Ich nehme ihm ab, dass er sich von einigen nationalistischen Äußerungen ehrlich distanziert hat. Man sieht ja auch, wie vielschichtig seine Unterstützer, darunter auch jüdische Mitarbeiter, sind", sagt Lagodinsky, der am Freitag einen offenen Brief an die EU-Präsidentschaft formuliert hat, den bereits weit über 100 Abgeordnete des Europäischen Parlaments unterzeichnet haben. Darin wird gefordert, dass der Fall von den Vereinten Nationen, also international untersucht wird. "Zu glauben, dass es möglich ist, dass der Fall in Russland transparent und fair untersucht wird, ist lächerlich", sagt Lagodinsky.
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