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Analyse: In Afghanistan droht im Winter eine Hungerkatastrophe

Analyse

In Afghanistan droht im Winter eine Hungerkatastrophe

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    Mütter mit Babys stehen Schlange in einer Einrichtung der deutschen Hilfsorganisation Kinderhilfe Afghanistan. Dort erhalten sie dringend benötigte Säuglingsnahrung.
    Mütter mit Babys stehen Schlange in einer Einrichtung der deutschen Hilfsorganisation Kinderhilfe Afghanistan. Dort erhalten sie dringend benötigte Säuglingsnahrung. Foto: Kinderhilfe Afghanistan

    Dramatische Bilder, Sondersendungen, Schlagzeilen – der Siegeszug der Taliban in Afghanistan, der chaotische Abzug westlicher Truppen beherrschten medial weltweit den Spätsommer. Was passiert mit den einheimischen Ortskräften? Wie werden die Islamisten ihre Macht ausüben? Werden sie wieder so brutal herrschen wie von 1996 bis 2001, als die Taliban schon einmal das Land regierten? Diese brennenden Fragen stellten sich. Doch im Herbst geriet das Thema aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung – dabei hat es an Brisanz nichts eingebüßt.

    Im Gegenteil. Die Warnungen der UN vor einer humanitären Katastrophe sind alarmierend: Mehr als eine Million Babys und Kleinkinder in Afghanistan, so die Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sind im heraufziehenden Winter in Lebensgefahr, weil sie nicht genug zu essen bekommen. Gleichzeitig sind derzeit weniger als 20 Prozent der medizinischen Einrichtungen arbeitsfähig. Nach UN-Berechnungen könnten im nächsten Jahr 97 Prozent der 40 Millionen Afghaninnen und Afghanen unter die Armutsgrenze rutschen.

    Leiter der Kinderhilfe Afghanistan warnt vor einer drohenden Hungerkatastrophe

    Die Diagnose der UN bestätigt der Leiter der Kinderhilfe Afghanistan, Reinhard Erös: „Die humanitäre Lage ist fatal, es droht eine Hungerkatastrophe.“ Die von Erös gegründete Hilfsorganisation hat im Osten des Landes 17 Schulen – auch für Mädchen – gebaut. Hinzu kommen eine Universität und medizinische Einrichtungen. „Unsere Kinderhilfe verteilt in Lagern rund um Kabul, in denen bis zu 500.000 afghanische Binnenflüchtlinge leben, und an arme Familien in der Provinz-Hauptstadt Dschalalabad Lebensmittel-Pakete und Säuglingsnahrung. Insgesamt helfen wir täglich 1000 Familien“, sagt Erös, der regelmäßig nach Afghanistan reist, unserer Redaktion. Ein Engagement, das durch eine sehr hohe Spendenbereitschaft in Deutschland unterstützt werde, aber auch dadurch, dass der Betrieb der Kinderhilfe-Einrichtungen nach der Machtübernahme der Taliban „ungestört“ weiterlaufe.

    Reinhard Erös fordert die USA auf, eingefrorene afghanische Währungsreserven der Taliban-Regierung zur Verfügung zu stellen.
    Reinhard Erös fordert die USA auf, eingefrorene afghanische Währungsreserven der Taliban-Regierung zur Verfügung zu stellen. Foto: Ulrich Perrey dpa, (Archivbild)

    Die humanitäre und soziale Notlage geht Hand in Hand mit einer sich rasant verschärfenden Wirtschaftskrise. „Die Vereinten Nationen haben vor einem Zusammenbruch des Bankensystems gewarnt. Schon jetzt gibt es kaum Bargeld und lange Schlangen an den Geldautomaten. Hinzu kommt eine starke Preissteigerung für Energie oder Nahrungsmittel“, sagt Thomas Ruttig, Direktor des Afghanistan Analysts Network, einer unabhängigen Forschungseinrichtung, unserer Redaktion.

    Wie gehen die Taliban mit Ortskräften, Frauen und Mädchen um?

    Für heikel hält Ruttig die Sicherheitslage in Teilen des Landes. „Viele Taliban machen offenbar, was sie wollen, und zwar auch, wenn es andere Anweisungen ihrer Führung gibt. Es fehlt an Rechtssicherheit.“ Staatsrechtler würden ein solches Konstrukt einen „mehrgesichtigen Staat“ nennen, in dem es offiziell zwar positive Vorgaben gebe, die Umsetzung aber negativ ist oder gar nicht erst erfolgt. Gleichzeitig registriert Ruttig mit Blick auf seine Kontakte und Medienberichte, dass „viele Menschen zufrieden sind, dass der Krieg zu Ende ist“.

    Afghanistan-Experte  Thomas Ruttig hält die fehlende Rechtssicherheit im Land als großes Problem.
    Afghanistan-Experte Thomas Ruttig hält die fehlende Rechtssicherheit im Land als großes Problem. Foto: picture alliance / dpa

    Zwei Befürchtungen waren immer wieder zu hören, als Ende August über die Folgen der Machtübernahme der Taliban spekuliert wurde. Womit müssen Sicherheitskräfte, Soldaten und Angestellte der früheren Regierung sowie einheimische Ortskräfte, die die ausländischen Streitkräfte oder Hilfsorganisationen unterstützt haben, rechnen? Wie werden die islamistischen Fundamentalisten mit Mädchen und Frauen umgehen? Thomas Ruttig: „Offiziell heißt es, dass es keine Verfolgung früherer Angestellter der Ex-Regierung gibt. Es liegen jedoch zahlreiche Berichte vor, dass genau dies geschieht. Es ist aber unklar, ob man das schon systematische Verfolgung nennen kann.“

    Reinhard Erös liegen Informationen vor, dass „einzelne Taliban-Kommandeure gewaltsam gegen ehemalige Angehörige der afghanischen Armee und des Geheimdienstes vorgehen“ würden. Damit allerdings würden sie gegen das Versprechen der Regierung vom September verstoßen, dass es eine Amnestie für alle ehemaligen Polizeikräfte, Soldaten und Mitglieder der Regierung geben werde. Die Kommandeure müssten daher fürchten, gerügt oder bestraft zu werden. „Angst müssen auch diejenigen haben, die offen Opposition gegen die Taliban betreiben. Wer das tut, bekommt Probleme.“

    Reinhard Erös hält das aktuelle Afghanistan-Bild im Westen für zu negativ

    Im Übrigen sei ihm kein Fall bekannt, „in dem frühere Ortskräfte der Bundeswehr verfolgt, gefoltert oder gar getötet wurden“. Allerdings seien etliche von den Polizeibehörden der Taliban befragt worden. „Mir scheint, dass die Situation in westlichen Medien zu negativ dargestellt wird. Da ist von Horrorszenarien die Rede. Doch die Taliban von heute sind nicht mit den Taliban zu vergleichen, die während ihrer ersten Herrschaft für schreckliche Verbrechen verantwortlich waren“, sagt Erös.

    Zu erwarten war, dass die Taliban nicht bereit sein würden, die in den letzten Jahren geschaffenen Rechte von Frauen und Mädchen zu akzeptieren. Ruttig sieht ihre Lage kritisch. „Viele Frauen dürfen oder können nicht arbeiten. Sie haben gerade auch in Kabul Angst vor Übergriffen der Taliban auf der Straße, wenn sie zur Arbeit gehen wollen.“ Auch Erös macht sich keine Illusionen: „Gebildete Frauen werden für absehbare Zeit viel weniger Möglichkeiten haben, sich so frei zu entfalten wie in den vergangenen 20 Jahren. Das bedauere nicht nur ich. Um das wieder rückgängig zu machen, braucht es viel Geduld und weiterhin Gespräche mit den neuen Machthabern auf Augenhöhe.“

    Junge afghanische Mädchen besuchen den Unterricht in einer Grundschule in Kabul. An weiterführende, staatliche Schulen sind sie derzeit nicht mehr zugelassen.
    Junge afghanische Mädchen besuchen den Unterricht in einer Grundschule in Kabul. An weiterführende, staatliche Schulen sind sie derzeit nicht mehr zugelassen. Foto: Oliver Weiken, dpa

    Verwirrung gibt es um die Frage, ob Mädchen und Frauen weiterhin die Schule oder Universitäten besuchen dürfen. In den Städten halten sich staatliche und private Schulen die Waage. Nach Informationen der Kinderhilfe Afghanistan, die Kontakte zu den zuständigen Ministern der Taliban-Regierung pflegt, werden Mädchen an den Privatschulen derzeit bis zum Abitur unterrichtet, an staatlichen Schulen sind sie für die Oberstufe allerdings nicht mehr zugelassen. Das Bild an den Universitäten: Von den 160 Unis sind 120 privat. Dort können junge Frauen die Vorlesungen ungestört besuchen. An den 40 staatlichen Einrichtungen gibt es eine Trennung nach Geschlechtern.

    Thomas Ruttig sieht den Westen in der Pflicht

    In den USA, Europa, insbesondere auch in Deutschland wird darüber diskutiert, wie man der afghanischen Bevölkerung helfen kann, ohne die Taliban aufzuwerten. Intensive Gespräche mit dem Regime werden schon seit Monaten geführt. Einig sind sich Thomas Ruttig und Reinhard Erös, dass Wegschauen keine Option ist: „Der Westen steht in der Verantwortung, schließlich wurde die Lage in Afghanistan in einer Art Selbsthypnose viele Jahre lang schöngeredet“, sagt Ruttig. Es müsse ja nicht auf eine diplomatische Anerkennung hinauslaufen. Auch die Taliban sollten auf den Westen zugehen, wenn sie nicht wollten, „dass ihre Landleute verhungern“.

    Erös fordert, dass die „USA die eingefrorenen mutmaßlich rund acht Milliarden Dollar Währungsreserven an die Taliban mit Auflagen freigeben. Dann kann der Hunger bekämpft werden, dann kann der Staat Lehrer, Ärzte und seine Angestellten bezahlen“. Wenn dies nicht geschehe, würde der Westen jeden Einfluss auf das geostrategisch wichtige Land verlieren. „China oder Russland werden dann einspringen, denn Afghanistan ist reich an wichtigen Bodenschätzen“, sagt Reinhard Erös.

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