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Analyse: Das sind die fünf größten Herausforderungen für die EU

Analyse

Das sind die fünf größten Herausforderungen für die EU

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    Die Europäische Union wird derzeit von vielen Sorgen geplagt.
    Die Europäische Union wird derzeit von vielen Sorgen geplagt. Foto: Niall Carson, dpa

    Auf Europa und "die in Brüssel" einzuschlagen ist ein beliebter Sport, vornehmlich betrieben von Menschen, die gar nicht verstehen wollen, was

    1. Glaubwürdigkeit: Dass die EU nur in Krisen vorankomme und neue Kompetenzen erhalte, den Satz scheint Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – obwohl noch recht frisch in Brüssel – früh verinnerlicht zu haben. Deswegen sah sie die Corona-Krise durchaus auch als Gelegenheit zu glänzen und Europas Zuständigkeiten auszubauen. Wie verlockend erschien die Vorstellung, ein in Europa entwickelter Impfstoff könne den Kontinent, vielleicht sogar den Rest der Welt retten? Man träumte im Team der Kommissionspräsidentin von Bildern simultaner Impfungen quer durch die Union, daher war auch der gemeinsame Einkauf so wichtig. Allein, den vermasselten die Brüsseler Behörden, weil Gesundheitspolitik und harte Verhandlungen mit Pharmariesen nie zu ihren Aufgaben gehört hatten.

    Zudem mischten sich Mitgliedstaaten ein, Frankreich etwa, das offenbar eigene Firmen protegierte – und auch Kanzlerin Angela Merkel, die sich nicht wieder dem Vorwurf aussetzen wollte, Deutschland gehe es nur um sich und nicht um die kleineren und ärmeren Mitgliedstaaten. Herausgekommen ist eine PR-Katastrophe. Warum genau die EU bei Impfungen und der Impfstofflieferung so hinterherhinkt, werden erst Zeitgeschichtler in einigen Jahren im Detail aufklären können. Dass es aber so ist, versteht aktuell fast jeder Bürger – genauso wie den Umstand, dass es ausgerechnet in einem Land wie Großbritannien, das der EU den Rücken gekehrt hat, besser läuft. Ganz gleich, wie die Impfstrategie auf europäischer Ebene weitergeht: Dieser Glaubwürdigkeitsschaden wird bleiben.

    Bei der Bundestagswahl spielt Europa keine Rolle

    2. Deutschland: Was hatte diese Kanzlerin sich nicht alles vorgenommen für die letzte EU-Ratspräsidentschaft ihrer langen Amtszeit! Sie wollte Europa noch einmal frisch denken, die Migrationspolitik auf neue Füße stellen, einen "Green Deal" mit anschieben. Gelungen ist davon: wenig. Angela Merkel musste wegen Corona auch im Endspurt ihrer Kanzlerschaft die Krisenkanzlerin bleiben, die sie schon beim Euro und in der Migrationsfrage war. Aber es wird noch schlimmer: "Europa" dürfte als Thema für diesen Bundestagswahlkampf verbrannt sein. Olaf Scholz, SPD-Kanzlerkandidat, wollte Europas Entwicklung in den Mittelpunkt seiner Bewerbung stellen.

    Von Angela Merkels Plänen für die EU-Ratspräsidentschaft ist wenig gelungen.
    Von Angela Merkels Plänen für die EU-Ratspräsidentschaft ist wenig gelungen. Foto: Tobias Schwarz, dpa

    Der Aachener Armin Laschet, möglicher CDU-Kanzlerkandidat, beschwört stets das Erbe von Karl dem Großen als großem Europäer und war selbst Europaparlamentarier. Nun aber schimpft Wahlkämpfer Scholz sehr offen über Brüssel, und dass Laschet bald "mehr Europa" fordert, erscheint derzeit auch abwegig. Auftrieb dürften im Bundestagswahlkampf eher jene erfahren, die Europa per se als Problem und Nationalismus als Lösung empfinden – wie die Populisten. Und: Ganz gleich, wer nach Merkel kommt, internationales Gewicht wird er oder sie nicht mitbringen, große deutsche EU-Initiativen sind erst einmal nicht zu erwarten.

    3. Frankreich: Punktgewinn für die Populisten: Das führt uns direkt zur anderen Achse des so oft beschworenen "deutsch-französischen Tandems". Das wollte Emmanuel Macron als neuer und so dynamisch auftretender französischer Präsident unbedingt besteigen, er verkündete teils im Wochentakt Visionen für eine neue europäische Ordnung. "Mehr Europa wagen", das erklang als Ruf von Paris gen Berlin, wurde dort zu Beginn von Macrons Amtszeit aber schlichtweg ignoriert.

    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Foto: Thibault Camus, dpa

    Irgendwann schien Merkel zu mehr bereit, aber dann kam Corona – und derart viel Frust im französischen Krisenmanagementteam, dass Macron zuletzt selber fast wie ein Populist klang. Es sind Äußerungen von ihm aus kleinem Kreis überliefert, er könne die Wissenschaftler nicht mehr hören. Auch Frankreich versinkt im Lockdown- und Impfchaos. So sehr, dass es momentan weniger um die Frage zu gehen scheint, ob die Rechtsextreme Marine Le Pen in die Endrunde der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr kommt, sondern eher, ob sie dort noch zu stoppen wäre, wie es in der Vergangenheit gelang.

    Der Corona-Lockdown lähmt den Austausch

    4. Brüssel: Über die vermeintliche "Blase" zu schimpfen, die sich in der belgischen Hauptstadt – und, nach einem festen Wanderzirkus-Kalender, auch im französischen Straßburg – austauscht, ist einfach, verkennt jedoch den Wert dieses Austausches. Die EU-Hauptstädte, die es so offiziell ja gar nicht gibt, sind doch ein sehr besonderes Experiment: Experten, Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Optimisten, Zyniker, Lobbyisten, Opportunisten und Idealisten versammeln sich tagtäglich, um wieder neu über Europa zu verhandeln – und über Europa nachzudenken. Das kann ungeheuer lähmend sein, nervig auch, inzestuös.

    Aber es wirkt zugleich unheimlich belebend-kreativ, deswegen ja ging Europa aus früheren Krisen meist gestärkt hervor. All dies fällt nun weg. Parlamentarier haben teilweise seit Monaten Brüssel oder Straßburg nicht mehr betreten. Das Kommissionsgebäude ist wie ein abgeschottetes Raumschiff, in dessen verlassenem 13. Stock eine Kommissionspräsidentin einsam residiert, die sich in Brüssel wenig auskennt und dort auf wenige Freunde zählen kann. Die Gelegenheit, dies auf einem der unzähligen Flurfeste, Empfänge, Restauranttermine zu ändern, zu werben für manche Idee, andere zu verwerfen – undenkbar im Moment. Politik auf Abstand ist überall schwierig. In Europas Herzen ist sie aber einfach wesensfremd.

    5. Amerika: Natürlich klingt Joe Biden ganz anders als sein Vorgänger, wenn er etwa gerade bei der Münchner Sicherheitskonferenz den Wert vom Bündnis mit Europa betont oder die Nato hervorhebt, auch ansässig in Brüssel. Natürlich hat der neue US-Präsident sich mit Top-Beratern umgeben, die in so gut wie jeder europäischen Hauptstadt Freunde haben. Und doch zeigen schon die ersten Wochen des transatlantischen Neuanfangs in Washington: Gänzlich neu wird die amerikanische Außenpolitik auch unter Biden nicht sein – und Europa wird nicht auf einmal wieder ins Zentrum rücken.

    US-Präsident Joe Biden will wieder enger mit der EU zusammenarbeiten.
    US-Präsident Joe Biden will wieder enger mit der EU zusammenarbeiten. Foto: Evan Vucci, dpa

    Wo bleibt da Europa? Einen neuen Anlauf für ein transatlantisches Freihandelsabkommen wird es kaum geben, auch weil der Widerstand dagegen in einigen europäischen Hauptstädten von breitem Antiamerikanismus befeuert wirkte. Dass die Europäische Union so viel Corona-Krisengeld bereitstellt wie sonst nur die USA, sorgt in Washington für Anerkennung – verbunden jedoch mit der Frage, ob das viele Geld in Schuldenländern wie Italien versickern wird. Beim Klimaschutz oder der Corona-Impfallianz könnte Europa wichtiger Partner sein. Aber Europa als erste Anlaufstelle, wenn die Weltmacht USA die Zukunft gestalten will? Das dürfte auch unter Präsident Joe Biden kein Selbstläufer mehr sein.

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