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75 Jahre Grundgesetz: So arbeitet das Bundesverfassungsgericht

75 Jahre Grundgesetz

Hier erhebt sich niemand über das Recht

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    Die letzte juristische Instanz in Deutschland: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet ein Urteil zum Anfechten von Vaterschaften.
    Die letzte juristische Instanz in Deutschland: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet ein Urteil zum Anfechten von Vaterschaften. Foto: Uli Deck, dpa

    Sylvia Thimm ist eine Frau, die nicht so leicht aufgibt. Ihre Kneipe, das „Doors“ im Berliner Szenebezirk Prenzlauer Berg, ist keine 40 Quadratmeter groß – wie soll sie da ein Raucher-Separee abtrennen? Zwei Drittel ihrer Gäste rauchen, schätzt die Wirtin. Müsste sie ihnen das verbieten, wie es der Berliner Senat im Herbst 2007 von ihr verlangt, könnte sie das „Doors“ auch gleich schließen und Sozialhilfe beantragen. Nachdem Freunde jedoch den Kontakt zu einem Anwalt und dem Rechtsprofessor Heinrich Wolff herstellen, steht Sylvia Thimms Entschluss schnell fest. Sie legt Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein – und gewinnt. In kleinen Kneipen ohne Nebenraum wie dem „Doors“ darf in Berlin weiter geraucht werden.

    An einem sonnigen Vormittag im Mai sitzt eben jener Wolff in seinem Büro im ersten Stock des Bundesverfassungsgerichts und erinnert sich an den Fall. „Da habe ich abgeräumt“, sagt er lachend. Von mehreren Tausend Verfassungsbeschwerden, die jedes Jahr in Karlsruhe eingehen, haben allenfalls zwei Prozent Erfolg – die von Sylvia Thimm ist eine davon, und entsprechend groß ist das mediale Echo. Für Wolff, damals ihr Prozessbevollmächtigter und seit knapp zwei Jahren selbst Verfassungsrichter, ist die Rauch-Rebellin aus dem Prenzlauer Berg der gelebte Beleg für die These vom „Bürgergericht“, das das höchste deutsche Gericht sein will – ein

    Die Väter des Grundgesetzes betraten juristisches Neuland

    Als das Grundgesetz vor 75 Jahren in Kraft tritt, ist das juristisches Neuland für seine Väter. Für alle wichtigen Institutionen des neuen Deutschlands vom Bundeskanzler über den Bundespräsidenten bis zum Bundestag und dem Bundesrat hat es bereits Vorläufer im Kaiserreich und der Weimarer Republik gegeben – nur für das Bundesverfassungsgericht als letzte juristische Instanz des Landes nicht. „Seine Gründung war eine Innovation“, sagt Wolff, der weiß, wovon er spricht. 14 Verfahren vom Rauchverbot in der Mini-Kneipe über die Vorratsdatenspeicherung bis zum Berliner Mietendeckel hat er als Bevollmächtigter in Karlsruhe geführt, ehe er dort Richter wurde – so viele wie keiner seiner Kollegen.

    In der Kathedrale des Rechts, wie der funktionale Zweckbau am Rande des Schlossparks gerne genannt wird, ist Wolff einer von acht Richtern des ersten Senats, der sich vor allem um die Grundrechte der Bürger kümmert, die acht Kollegen des zweiten Senats sitzen eine Etage darüber und entscheiden vor allem in institutionellen Konflikten wie dem aktuellen Streit um das Wahlrecht. Neben dem Richterhaus steht das Gebäude mit dem lichtdurchfluteten Sitzungssaal, in dem ein großer Adler aus Pinienholz über den Richtern in den roten Roben zu schweben scheint. Auch aus metaphorischen Gründen hat der Architekt Paul Baumgarten den Saal an den höchsten Punkt seines Ensembles gesetzt: Niemand, schon gar kein Richter, soll sich über das Recht erheben, das hier gesprochen wird. Deshalb sitzen die Richter ein paar Meter tiefer. Eine geradezu klösterliche Ruhe herrscht dort – und eine sympathisch analoge Arbeitsatmosphäre. Hinter Wolff stapeln sich Dutzende von gelben und roten Aktenmappen auf einem Tisch. „Elektronische Verfahren“, sagt er entschuldigend, „haben wir noch nicht.“

    Nicht einmal in der Kantine reden die Verfassungsrichter über ihre Fälle

    Wie die Richter zu ihren Entscheidungen kommen, ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse in Karlsruhe. Aus ihren Beratungen dringt nichts nach außen, selbst in der Kantine sind die Verfahren, mit denen sie sich beschäftigen, tabu. „Wir sprechen nicht über unsere Fälle, wenn wir nicht alle zusammensitzen“, sagt Wolff. „Nicht einmal auf dem Gang.“ Das hat, zum einen, etwas Klandestin-Elitäres, schafft auf der anderen Seite aber auch Vertrauen in die Institution. Anders als in der Politik, wo aus Ministerien, Parteizentralen oder Abgeordnetenbüros immer wieder Informationen an Medien durchgestochen werden, um damit

    Für Heinrich Amadeus Wolff ist der Aufstieg zum Verfassungsrichter die Krönung einer langen, zielstrebigen Juristenkarriere – die Erfüllung eines Traumes, sagt er, die man sich nicht verdiene, sondern geschenkt bekomme. „So sehen das alle hier.“ Er war schon wissenschaftlicher Mitarbeiter in Karlsruhe, ehe er an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer promovierte, sich habilitierte und als Referent ins Bundesinnenministerium nach Berlin wechselte. Anschließend folgte er dem Beispiel seines Vaters, der ebenfalls Rechtsgelehrter war, und wurde zunächst in München Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, übernahm dann einen Lehrstuhl an der Europa-Universität in Frankfurt/Oder und schließlich einen in Bayreuth. Über sich selbst sagt er, er sei ein juristischer Handwerker, extrem tolerant, extrem unangepasst und nicht zufällig von der FDP für das Richteramt nominiert worden. „Ich habe ein sehr positives Staatsbild“, betont er. „Aber der Staat hat auch seine Grenzen.“ 

    Die Krönung eines Juristenlebens: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (links) ernennt Heinrich Amadeus Wolff zum Richter am Bundesverfassungsgericht.
    Die Krönung eines Juristenlebens: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (links) ernennt Heinrich Amadeus Wolff zum Richter am Bundesverfassungsgericht. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Diese Grenzen zu ziehen und ihr Überschreiten zu verhindern, ist die vornehmste Aufgabe des höchsten deutschen Gerichts. Nur zehn bis 20 Fälle pro Jahr, schätzt Wolff, landen dabei publikumswirksam in seinem Senat, von denen wiederum ein Fünftel auch öffentlich verhandelt wird. „Damit kommen wir ins Fernsehen“, sagt der 57-Jährige mit einem Augenzwinkern. Der Rest ist das Graubrot der Verfassungsrichter – Tausende von Eingaben, die in den sogenannten Kammern mit jeweils drei Richtern bereits entschieden werden oder die das Verfassungsgericht gar nicht erst annimmt. Grob gerechnet, sagt Wolff, bearbeite er etwa eineinhalb Fälle pro Arbeitstag, dazu kämen die der beiden anderen Kollegen in seiner Kammer, mit denen er sich vor einer Entscheidung ja auch noch beschäftige. Wenn sich allerdings jemand einen Spaß machen wolle und wegen eines Strafzettels Verfassungsbeschwerde einlege – dann könne er das auch schnell stoppen. „Wir entscheiden, ob wir einen Fall annehmen.“ 

    So angesehen das Verfassungsgericht mit seinen 270 Mitarbeitern als Institution ist, so unspektakulär und unbeeindruckt von den Zeitläuften arbeitet es im Alltag – geschützt zwar von 80 Bundespolizisten im Schichtdienst, aber dabei doch nahbar, weil es von keiner Mauer und keinem Stacheldrahtzaun umgeben ist. Die großen Glasfronten und die freie Sicht sollen ein Symbol für die Offenheit und die Bürgernähe des Gerichts sein. Nur einmal stört ein lauter Knall die Ruhe am Rande des Schlossparks, und seitdem wird das Gericht auch bewacht: Im März 1975 explodiert an einem der Pfeiler des Gebäudes ein Sprengsatz, gezündet vermutlich von einer Gruppe radikaler Feministinnen aus Protest gegen ein Abtreibungsurteil. Mehr als 20 Jahre zuvor hatte bereits ein amtsbekannter Beschwerdeführer am früheren Sitz des Gerichts eine Pulverladung angebracht, nachdem es seine reihenweise eingereichten Verfassungsbeschwerden nicht angenommen hatte. Verletzt wird in beiden Fällen zum Glück niemand. 

    Ein Verfassungsrichter muss mindestens 40 Jahre alt sein

    Um wie Heinrich Wolff Richter in Karlsruhe zu werden, genügen zumindest formal zwei Kriterien – das zweite juristische Staatsexamen und ein Mindestalter von 40 Jahren. Der Rest ist auch hier Politik. Bundestag und Bundesrat schlagen abwechselnd Kandidaten für frei werdende Stellen vor, häufig ehemalige Bundesrichter, Professoren, aber auch Politiker wie den früheren Landesminister Roman Herzog, der später noch Bundespräsident wurde, den ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller oder zuletzt Stefan Harbarth, der für die CDU im

    Sylvia Thimm ist in der Karlsruher Konsensmaschine zu ihrem Recht gekommen. Kurzer Anruf bei ihr, 16 Jahre danach. Ja, sagt sie, die Verfassungsbeschwerde habe ihr Lokal damals gerettet. „Uns gibt es immer noch.“ Und ja – im „Doors“ wird noch immer geraucht. 

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