Die Europäische Union galt einmal als Bollwerk. Als um die Jahrtausendwende in Österreich die rechtsextreme FPÖ eine Koalition mit der konservativen Volkspartei einging, löste das einen bis dato beispiellosen Aufschrei in Europa aus. 14 der damals noch 15 EU-Mitgliedstaaten kündigten an, das Alpenland diplomatisch isolieren zu wollen, man drohte mit politischer Ächtung und Boykott. Die Union sah eine rote Linie überschritten. Zu blutig die Geschichte Europas, als dass jemals die extreme Rechte mit am wichtigen Tisch in Brüssel sitzen dürfe.
23 Jahre später scheint sich diese Linie verschoben zu haben. Im Juni reisten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische Premier Mark Rutte und die ultrarechte Regierungschefin Italiens, Georgia Meloni, Schulter an Schulter als Team Europa nach Tunesien. Ziel der Gespräche mit dem Autokraten Kais Saied war ein Deal, in dessen Folge das nordafrikanische Land Flüchtlinge und Migranten davon abhalten soll, nach Europa zu gelangen – gegen viel Geld, versteht sich. Meloni, die Chefin einer Partei mit ausgewiesenen Mussolini-Verehrern, wird in Brüssel mittlerweile als konstruktive Partnerin gelobt. Sie pocht besonders auf das Abkommen mit Tunesien und weiß um die Unterstützung der meisten Partner. Die alte Mitte ist nicht mehr. Zunehmend nähern sich in Europa die traditionellen konservativen Parteien und die extreme Rechte an.
Politische Koalitionen mit rechten Parteien werden in Europa salonfähig
Noch schließen in Deutschland die CDU/CSU ein Bündnis mit der AfD zwar aus. In anderen Ländern ist das Tabu aber längst gefallen. Während sich in Spanien eine Mitte-Rechtsaußen-Koalition anbahnt, gibt es diese Konstellation bereits in Italien, Schweden, Lettland und Finnland. In Ungarn und Polen stehen rechtsnationale Regierungen an der Spitze. In Frankreich legte das rechtsnationale Rassemblement national von Marine Le Pen bei der Parlamentswahl vor gut einem Jahr kräftig zu und ist nun größte Oppositionsfraktion in der Nationalversammlung. In den Niederlanden ist die Regierung gerade im Streit um die Flüchtlingspolitik zerbrochen.
Damit findet auch in Brüssel eine Normalisierung von Positionen statt, die früher als nicht salonfähigen galten. Das alte Konzept von Franz Josef Strauß, dass es rechts von der CDU/CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe, hat ausgedient. Zu sehr verfängt bei vielen Bürgern das Auf-die-guten-alten-Zeiten-Versprechen der Rechten, Ordnung und Kontrolle wiederherzustellen. Es sind vermeintlich simple Lösungen in einer komplexen Welt, in der Europa seit Jahren eine systembedingte Krise nach der nächsten bewältigen muss. Dabei haben die Autoritären mit dem Kulturkampf oder der Klimakrise neue Themen entdeckt, mit denen sie Ängste schüren.
Im Juni 2024 wird ein neues EU-Parlament gewählt
Und während viele Konservative die Erfolg versprechenden Argumente zu übernehmen versuchen, mäßigen smarte rechtsextreme Parteien einige ihrer radikalen Ansichten. Sie schrauben ihre EU-Skepsis zurück und spielen ihre frühere Unterstützung für Russland herunter. Das wiederum öffnet Spielräume, die etwa der Chef der gemäßigten Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, für seine Suche nach neuen europäischen Partnern nutzt. Der CSU-Politiker formulierte eine proeuropäische, proukrainische und prorechtsstaatliche Haltung als Voraussetzung für eine Zusammenarbeit. Die Kriterien erfüllen jedoch zunehmend auch die Rechten.
Wenn Weber mit Meloni flirtet, dann ist das eine Reaktion auf die veränderte politische Lage in Europa – Weber will sich eine bequeme Mehrheit sichern. Denn im Juni 2024 sind 450 Millionen Bürger aufgerufen, ein neues EU-Parlament zu wählen. Der Rechtsruck könnte auf das Abgeordnetenhaus übergreifen.
Wie antwortet die EU künftig auf Themen wie den Umgang mit Russland?
Der Trend dürfte tiefgreifende Folgen für die EU haben. Wie antwortet die Union auf die Herausforderungen dieser Zeit, auf den Klimawandel, den Umgang mit Russland und China, auf die Frage, wer auf dem Kontinent willkommen ist? Für eine gemäßigte Migrationspolitik etwa gibt es schon heute keine Mehrheit mehr, wie das von den 27 Partnern vereinbarte Asylpaket zeigt. Der Kompromiss deutet auf eine drastische Verschärfung der Flüchtlingspolitik hin, sollte das EU-Parlament nicht noch den Weichzeichner ansetzen. Deutschland war während der Verhandlungen völlig isoliert, sieht man vom Verbündeten in Luxemburg ab. Ein Diplomat sprach in fast gönnerhaftem Ton davon, dass Berlin dem Papier "mehr Herz und Seele" verleihen wollte. Vergebens. Der Großteil fordert Zäune, Mauern und Aufnahmezentren, wo Menschen eingesperrt das Prozedere durchlaufen sollen. Das ist aktuell die bittere Realität, die man schlimm finden, aber nur mit der Wählerstimme ändern kann.