Der Widerstand gegen das Vorgehen der Bundesregierung bei der Entwicklung einer Corona-Warn-App wächst: Ein breites Bündnis aus renommierten Netzexperten hat am Freitag in einem offenen Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzleramtschef Helge Braun davor gewarnt, die App mit einer zentralen Datenspeicherung auszustatten.
Das Gesundheitsministerium hatte in dieser Woche das Fraunhofer-Institut mit der Erstellung einer Machbarkeitsstudie für die Technologie Pepp-PT beauftragt. Pepp-PT sieht eine zentrale Speicherung der Gesundheitsdaten vor. „Diese Entscheidung stößt bei uns zwischenzeitlich auf großes Unverständnis, da gerade dies der problematischste unter den vorliegenden Entwürfen ist“, schreiben die Experten in dem Brief, der von Chaos Computer Club, LOAD e.v. Verein für liberale Netzpolitik, der Gesellschaft für Informatik, D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt e.V, der Stiftung Datenschutz sowie dem Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. unterzeichnet ist.
Beim zentralen Ansatz einer Corona-App werden Daten auf zentralen Servern gespeichert
Zum Hintergrund: Mit einer App soll es künftig deutlich leichter sein, Infektionsketten nachzuvollziehen. Henning Tillmann, selbstständiger Diplom-Informatiker und Co-Vorsitzender von D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt, erklärt die dezentrale Methode: Demnach wird auf den Handys jener Bürger, die die App installiert haben, immer ein Tagesschlüssel (TS) generiert. Ungefähr alle 15 Minuten leitet ein Algorithmus daraus einen Kurzschlüssel (KS) ab. Wichtig: Der Kurzschlüssel ist also Teil des Tagesschlüssels. Aus dem Tagesschlüssel ist demnach der Kurzschlüssel generierbar, nicht umgekehrt.
Es werden nicht alle Daten ausgetauscht
Kommen sich zwei Menschen näher, tauschen ihre Smartphones via Bluetooth die jeweiligen Kurzschlüssel aus - inklusive ungefährem Zeitpunkt des Treffens. Die vollständigen Tagesschlüssel werden dabei nicht synchronisiert.
Erkrankt eine der Personen, kann sie dies in der App vermerken. Dazu muss die Person aber einen Nachweis erbringen - etwa über einen QR-Code vom Gesundheitsamt. Im Anschluss werden die Tagesschlüssel der erkrankten Person aus den vergangenen Tagen auf den Server der lokalen Corona-App geladen. Der App-Anbieter verteilt die Schlüssellisten der positiv Getesteten mehrmals am Tag an alle App-Nutzer. Wichtig dabei zu wissen: Wer sich konkret hinter einem Tagesschlüssel verbirgt, bleibt unbekannt, auch dem App-Anbieter.
Wer mir einem Infizierten in Kontakt stand, soll bevorzugt getestet werden
Das Smartphone gleicht nun lokal im Hintergrund ab, ob sich aus der Liste mit den Tagesschlüsseln Kurzschlüssel von Personen generieren lasen, mit denen man in den vergangenen Tagen in Kontakt stand. Wenn das der Fall ist, erscheint eine Warnmeldung. Diese Personen sollen dann bevorzugt getestet werden.
Beim von der Pepp-PT-Initiative und wohl auch der Bundesregierung favorisierten zentralen Ansatz würden die anonymisierten Kontakt-Daten nicht nur auf den Smartphones der App-Nutzer, sondern auch auf einem zentralen Server gespeichert.
Eine Corona-Tracing-App sollte nach Meinung der Verfasser des offenen Briefes nur auf Basis eines dezentralen Ansatzes – wie beispielsweise das Konzept DP-3T (Decentralized Privacy Preserving Proximity Tracing) – programmiert werden. „Andernfalls steht zu befürchten, dass der geringe Datenschutz eines zentralen Ansatzes und das Fehlen technischer Beschränkungen gegen Zweckentfremdung dazu führen wird, das Vertrauen in die Verwendung einer solchen App auszuhöhlen und damit die Akzeptanz für spätere digitale Lösungen leichtfertig zu unterminieren.“
Experten fordern Transparenz bei der Entwicklung der Corona-App
Die Akzeptanz und das Vertrauen der Bevölkerung ist für den Erfolg der App unabdingbar, darüber sind sich die Netzexperten einig. Deshalb haben sich sowohl Linken-Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg, als auch Ann Cathrin Riedel, Vorsitzende von LOAD e.v. Verein für liberale Netzpolitik, im Gespräch mit unserer Redaktion für absolute Transparenz bei der Entwicklung der App ausgesprochen. „Ich glaube nur, das ist gar nicht gewollt“, sagt Domscheit-Berg.
Riedel fordert in diesem Zusammenhang das Engagement der Zivilgesellschaft: „Gerade in einer Ausnahmesituation wie durch Corona ist die Stimme der Zivilgesellschaft als Korrektiv von enormer Bedeutung.“ Sie freue sich über den Zusammenschluss der Netzexperten, „damit gute digitale Lösungen für alle - und das ist mir wichtig - Europäerinnen und Europäer zustande kommen“. Die Lösungen müssten Bürgerrechte schonen, aber eben auch digitale Innovationen ermöglichen. „Diese Kombination ist möglich, die deutsche Bundesregierung sollte sich dringend für diesen Weg entscheiden. Er steht bereit und müsste nur beschritten werden.“
Von der Notwendigkeit von technischen Anwendungen, die im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus unterstützen, sind Domscheit-Berg, Riedel und die Unterzeichner des offenen Briefes absolut überzeugt. „In der Tat können digitale Lösungen in vielen Fällen maßgeblich dabei helfen, Probleme zu identifizieren und zu lösen – auch bei der Bekämpfung der Pandemie haben digitale Lösungen durchaus ihren Platz“, schreiben die Experten. „Doch die am Mittwoch veröffentlichten Pläne des Gesundheitsministeriums sind nur eine scheinbar sinnvolle Verwendung digitaler Lösungen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus. In Wahrheit sind sie für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft hochproblematisch und ignorieren die Fachdebatte.“
Netzexperten lehnen "Pflicht zur App" ab
Mit einiger Sorge beobachten die Netzexperten auch „die Rufe nach einer Pflicht zur App für gewisse Bereiche des Lebens“. Die gemeinsame Bekämpfung der Pandemie benötige Vertrauen und die Kooperation aller. „Die Bereitschaft dazu wird mit einer Pflicht ohne Not verspielt. Eine allgemeine Bürgerpflicht, die jede Bürgerin und jeden Bürger zur Preisgabe sensibler Informationen verpflichtet, ist mit einem freiheitlichen Staat nicht zu vereinbaren. Auch die Einführung einer indirekten App-Pflicht, die das Betreten bestimmter Orte von ihrer Verwendung abhängig machen würde, lehnen wir ausdrücklich ab.“
Überhaupt bemängeln die Verfasser des offenen Briefes, dass im Gegensatz etwa zu Österreich und Schweiz zu wenig auf die Meinung von Experten gehört würde. In anderen Ländern würden die Regierungen auf dezentrale und transparente Konzepte setzen. „Dabei handelt es sich um exakt den Ansatz, für den sich die beiden Marktführer für Smartphone-Betriebssysteme, Google und Apple, bereits zur Kooperation bereit erklärt haben. Dies ist eine Bedingung, die für den Erfolg einer App immanent ist, denn ohne die Zusammenarbeit mit den beiden Unternehmen, die fast 100 Prozent des Smartphone-Marktes abdecken, ist ein Scheitern der Tracing-App vorhersehbar“, schreiben sie.
Die Experten beenden ihren Brief mit einem Appell an die Minister Spahn und Braun. Die beiden Politiker sollten unbedingt auf die Meinung unabhängiger Berater hören und einsehen: „Das von Ihnen präferierte Konzept für die App ist nicht der richtige Weg. So wird der Gedanke einer digitalen Lösung zur Bruchlandung – und das kann sich in der Bekämpfung der Pandemie niemand leisten.“
Den kompletten Brief lesen Sie auf der Internetseite von LOAD.