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Krisen: Die USA erleben ein "Jahr des nationalen Traumas"

Krisen

Die USA erleben ein "Jahr des nationalen Traumas"

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    „I can’t breathe“ – „Ich kann nicht atmen“ – flehte George Floyd, als ein weißer Polizist ihm die Luft abschnürte. Seither entlädt sich der Zorn der Demonstranten.
    „I can’t breathe“ – „Ich kann nicht atmen“ – flehte George Floyd, als ein weißer Polizist ihm die Luft abschnürte. Seither entlädt sich der Zorn der Demonstranten. Foto: John Minchillo, dpa

    Die New York Times attestiert den USA "ein Jahr des nationalen Traumas". Dabei ist 2020 noch nicht einmal zur Hälfte vorbei. Es begann mit dem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Donald Trump. Dann traf die Corona-Krise die Vereinigten Staaten mit voller Wucht. Vor wenigen Tagen überstieg die Zahl der Toten in Verbindung mit dem neuartigen Coronavirus die Marke von 100.000. Die Pandemie löste eine Wirtschaftskrise aus. Mehr als 40 Millionen Amerikaner meldeten sich arbeitslos. 

    Nun brechen die Narben von Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit in wieder auf. In vielen Städten kommt es seit Tagen zu Unruhen. Über all dem steht ein Präsident, der das Land nicht zu einen sucht, sondern dessen Spaltung vertieft - und der im November wiedergewählt werden möchte. 

    Proteste breiten sich aus

    In der Nacht zum Sonntag erschütterten Proteste die fünfte Nacht in Folge die USA - ausgelöst vom Tod des Schwarzen George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis im Bundesstaat Minnesota. In der Großstadt gerieten die Demonstrationen außer Kontrolle. Es kam zu schweren Ausschreitungen. Die Polizei musste aus einer brennenden Wache fliehen. Demonstranten setzten sich über Ausgangssperren hinweg. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wurde in Minnesota die gesamte Nationalgarde mobilisiert. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Proteste in andere Metropolen.

    Die Polizei als Freund und Helfer?

    "Letztendlich ist es ein Verbrechen, schwarz zu sein", sagte ein aufgebrachter afroamerikanischer Demonstrant dem Sender CNN. "Und ich verstehe nicht, warum das so ist. Weil wir alle Menschen sind." Er wolle sich nicht jedes Mal Sorgen müssen, wenn er hinter sich einen Polizeiwagen sehe. 

    Der Rassismus in Amerika

    Systematischen Rassismus haben die USA nie überwunden. Der Polizeieinsatz gegen Floyd, festgehalten auf Video, hat nun aber für einen kollektiven Aufschrei der Empörung gesorgt. Acht Minuten und 46 Sekunden lang drückte ein weißer Polizist sein Knie auf Floyds Nacken. Floyds flehentliche Worte - "Ich kann nicht atmen" - sind nun Kampfruf der Demonstranten. Sie dürften das Lebensgefühl vieler Afroamerikaner ausdrücken. Nicht nur wegen der Jahrhunderte langen Diskriminierung. Schwarze und andere Minderheiten sind es auch, die die Corona-Krise besonders hart getroffen hat. 

    "Die Leute haben es satt"

    Die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar - seit langem selbst ein Ziel von Verbalattacken des Präsidenten - sagte am Sonntag, es gehe bei den Protesten um weit mehr als um den Fall Floyd. So viele Menschen hätten Ungerechtigkeit, Brutalität und Vernachlässigung erfahren. "Die Leute haben es satt." Nötig seien landesweite Reformen. "Dieser Präsident hat den Schmerz und die Angst, die viele seiner Bürger empfinden, nicht wirklich verstanden." 

    Der Präsident im Wahlkampf

    Im November steht die Präsidentenwahl an, Trumps Sieg ist nicht gewiss. Sein Management in der Corona-Krise hat die Chancen auf eine zweite Amtszeit Umfragen zufolge nicht erhöht. Für diese Krise sucht der republikanische Politiker Sündenböcke: zum Beispiel China und die Weltgesundheitsorganisation WHO. Zwar zeigte auch er sich entsetzt über den brutalen Einsatz der Polizei. Er begann dann aber schnell, den Fall zu instrumentalisieren. 

    Hardliner Trump

    Die Unruhen nach Floyds Tod lenken von der Pandemie und ihren Folgen ab. Deren Ausmaß ist in den USA noch nicht abzusehen. Der Trump gibt sich als Hardliner, der Recht und Ordnung durchsetzen will - notfalls mit Gewalt. Für Empörung sorgte ein Tweet, in dem Trump dem demokratischen Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, den Einsatz des Militärs anbot und hinzufügte: "Wenn es Schwierigkeiten gibt, werden wir die Kontrolle übernehmen, aber wenn die Plünderungen beginnen, beginnt das Schießen." Die Zeitschrift New Yorker kommentierte: "Die Drohung des Präsidenten, das US-Militär auf Zivilisten schießen zu lassen, ist das Gegenteil von Führung." 

    Die angeblichen Schwächlinge

    Es ist Teil von Trumps Wahlkampfstrategie, die Demokraten als Schwächlinge darzustellen, die der Kriminalität keinen Einhalt gebieten. Die Ausschreitungen bestätigen das nun aus seiner Sicht. "Wie kommt es, dass all diese Orte, die sich so schlecht verteidigen, von liberalen Demokraten geführt werden?", schrieb Trump in einem Tweet. "Zeigen Sie Härte und kämpfen Sie." Dann twitterte er: "Liberale Gouverneure und Bürgermeister müssen VIEL härter durchgreifen, oder die Bundesregierung wird einschreiten und tun, was getan werden muss." Dazu gehöre, "die unbegrenzte Macht unseres Militärs zu nutzen" und viele Menschen festzunehmen. Atlantas  Bürgermeisterin Keisha Lance Bottoms sagte dazu, der Präsident möge einfach schweigen.  "Er spricht und macht es so schlimmer." 

    Kampf über die Deutungshoheit

    Einig sind sich der Präsident und die Demokraten darin, dass Randalierer und Plünderer dem Anliegen friedlicher Demonstranten schaden - an den Protesten beteiligen sich übrigens längst nicht nur Schwarze. Trump hat aber bereits den Kampf um die Deutungshoheit begonnen. Aus seiner Sicht handelt es sich bei den Randalierern nicht um Menschen, deren Wut über Rassismus und soziale Ungerechtigkeit sich gewaltsam Bahn bricht, sondern um ein linkes Komplott. "Die Gewalt und der Vandalismus werden von der Antifa und anderen gewaltsamen Gruppen des linken Flügels angeführt."  

    Trump und die Antifa

    Auch Belege für seine Anschuldigungen legte der Präsident nicht vor. Die Theorie passt aber in sein Konzept: Bereits im vergangenen August hatte Trump erklärt, er erwäge, die Antifa zur Terrororganisation erklären zu lassen. Wie das mangels Organisationsstrukturen des losen Bündnisses funktionieren soll, sagte er nicht. Wenige Tage später erschoss ein mutmaßlicher Rassist in El Paso (Texas) mehr als 20 Menschen. Er wollte nach eigenen Angaben möglichst viele Mexikaner töten. Nicht erst seit dieser Bluttat meinen Kritiker, dass nicht Antifaschisten die größte Gefahr für die USA darstellen, sondern Rechtsextremisten.

    Was kann die Amerikaner zusammenbringen?

    Trotz aller Krisen gab es am Samstag einen Moment des Stolzes für Amerika: Erstmals seit fast zehn Jahren schickten die USA wieder eine bemannte Raumkapsel ins Weltall. Trump trat kurz darauf am Weltraumbahnhof in Cape Canaveral auf. Zu Beginn seiner Ansprache erinnerte der Präsident an Floyd. Dann betonte er, er werde die "Mob-Gewalt" von "linksradikalen Kriminellen" stoppen. Als Trump über die Raumfahrtmission sprach, sagte er, der Start der Kapsel "bringt uns als Amerikaner zusammen". Trump fügte hinzu: "Wenn Amerikaner vereint sind, gibt es nichts, was wir nicht tun können." In Los Angeles brachen ungefähr zur selben Zeit gewaltsame Proteste aus. (dpa)

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