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Coronavirus: Lahmgelegt: Wie das Coronavirus den Alltag in China verändert

Coronavirus

Lahmgelegt: Wie das Coronavirus den Alltag in China verändert

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    Wo sich sonst Pendler drängen, ist Leere: die U-Bahn in Chinas Hauptstadt Peking.
    Wo sich sonst Pendler drängen, ist Leere: die U-Bahn in Chinas Hauptstadt Peking. Foto: Mark Schiefelbein/AP, dpa

    Nur wenige Stunden nachdem die Weltgesundheitsorganisation eine „internationale Notlage“ ausgerufen hat, genießt Cherie Liu den Freitagabend mit Freunden. Man trifft sich beim Nobel-Italiener im Ausgehviertel Sanlitun in Peking. Kellnerinnen mit schwarzen Masken im Gesicht servieren Rotwein, Pizzen mit Büffelmozzarella und üppige Salatbeilagen.

    Die meisten ihrer Freundinnen steigerten sich regelrecht in eine Paranoia hinein, sagt Liu, die in einer Marketing-Agentur arbeitet. Sie hat sich bewusst entschieden, Ruhe walten zu lassen – auch, weil sie Vertrauen in die Staatspartei hat. „Unser zentralisiertes System ist sehr effizient. Die Regierung schickt unzählige Ärzte nach Wuhan und baut zwei Krankenhäuser aus dem Nichts. Welches Land außer China kann das innerhalb so kurzer Zeit zustande bringen?“, meint Liu.

    Die Zahl der Toten durch Corona ist höher als damals bei Sars

    Die staatlichen Maßnahmen können aber nicht verhindern, dass sich das Coronavirus immer rasanter ausbreitet. So rasant, dass es schwerfällt, die aktuellen Zahlen zu verfolgen. Am Dienstag stieg die Zahl der Corona-Fälle auf 20.438. Von 425 Toten war die Rede, zudem von mehr als 20.000 Verdachtsfällen. Damit sind deutlich mehr Menschen in Festlandchina an der neuartigen Lungenkrankheit gestorben als während der Sars-Epidemie vor 17 Jahren.

    Und schon jetzt ist klar: Die Zahlen werden weiter steigen. Der Chef des nationalen Expertenteams im Kampf gegen das Coronavirus, Zhong Nanshan, geht davon aus, dass der Höhepunkt der Epidemie erst in zehn Tagen bis zwei Wochen erreicht wird. Außerhalb Chinas sind mehr als 150 Erkrankungen in zwei Dutzend Ländern bestätigt. In Deutschland ist das Virus aktuell bei zwölf Menschen nachgewiesen – davon zwei der insgesamt 126 Passagiere, die die Bundeswehr am Samstag aus Wuhan ausgeflogen hat.

    Und die Deutschen sind längst nicht die Einzigen, die ihre Landsleute aus den Quarantäne-Gebieten in der Provinz Hubei evakuiert haben. Auch Frankreich, die USA, Japan, Südkorea und Australien planen Rückholaktionen. Etliche Fluglinien haben ihre Verbindungen in die Volksrepublik bis mindestens 9. Februar gekappt. Russland hat seine Grenze nach China de facto geschlossen, auch Taiwan und Singapur schotten sich gegen Ankömmlinge vom chinesischen Festland ab.

    Chinesen filmen sich beim Hausarrest

    Beim Nobel-Italiener in Peking bringt die Kellnerin die ersten Nachspeisen. Von Panik in der Hauptstadt könne gar keine Rede sein, vielmehr seien die Leute gelangweilt, versichert Cherie Liu. Wie zum Beweis zückt sie ihr Smartphone und öffnet die App, die den Namen „Das kleine rote Buch“ trägt. Dort laden unzählige Chinesen kurze Video-Clips hoch, wie sie den monotonen Alltag unter Quarantäne etwa in Wuhan verbringen – von Tanzeinlagen in den eigenen vier Wänden bis hin zu Badminton-Matches im Innenhof. Gesammelt sind die Beiträge unter dem Hashtag „Heimtagebuch“ – angesichts der stillgelegten Bahnhöfe, Hausarreste und Autofahrverbote eine erstaunliche Verniedlichung der Gesundheitskrise.

    Doch es lässt sich auch eine andere, düstere Wirklichkeit beobachten. Im Internet kursieren Videos von Drohnen, mit denen die chinesische Polizei offensichtlich Menschen verfolgt, die keinen Mundschutz tragen – so wurde es von der regierungsnahen Zeitung Global Times verbreitet. Demnach ruft ein Stimme aus dem Lautsprecher der Drohne einer älteren Frau zu: „Sie sollten nicht draußen rumlaufen, ohne eine Maske zu tragen.“ Und: „Besser, Sie gehen jetzt nach Hause – und Hände waschen nicht vergessen!“ Oder an einer Straßenkreuzung: „Der Typ mit dem pinken Schutz am Motorrad“, soll es aus der Luft schallen: „Ja, Sie! Bitte tragen Sie eine Maske.“

    Ob die Drohnen allerdings tatsächlich unterwegs sind und Polizisten durch sie maßregeln, wurde von keiner anderen Quelle bestätigt. Vielleicht bloß Einschüchterungs- und Kontrollpropaganda?

    In sozialen Medien wettern Chinesen in unverblümter, teils gehässiger Sprache gegen inkompetente Parteikader. Anlass dafür gibt etwa der Lokalgouverneur der Provinz Hubei, der auf einer Pressekonferenz Ende Januar gehörig ins Straucheln geriet. Wie viele Atemschutzmasken man produziere, wollte ein Journalist wissen. Von 10,8 Milliarden Stück pro Jahr sprach Wang Xiaodong zunächst, bis ihm ein Papier zur Korrektur vorgelegt wurde. „Tatsächlich sind es 1,8 Milliarden“, setzte

    Und es kommen immer mehr Details ans Licht, wie die Lokalregierung versuchte, das Coronavirus in den ersten Wochen zu verschleiern. In einer Studie, nachzulesen im renommierten The New England Journal of Medicine, haben chinesische Forscher dargelegt, dass bereits Mitte Dezember Beweise vorlagen, wonach die Erreger der Lungenkrankheit von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Zu jenem Zeitpunkt wusste die chinesische Öffentlichkeit noch nichts über einen möglichen Virusausbruch. Erst Anfang Januar berichteten Krankenhausmitarbeiter auf sozialen Medien über eine „mysteriöse Lungenseuche“. Danach wurden sie wegen „Verbreitung von Gerüchten“ vorläufig festgenommen.

    Auch bei denen, die sich in diesen Tagen in Peking ihr Feierabendbier nicht nehmen lassen, ist das Thema. „Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass die Parteikader die negative Nachricht über das Virus verschwiegen haben, weil das künftige Beförderungen zunichte gemacht hätte“, sagt ein Mittdreißiger. Hinter vorgehaltener Hand äußern sich viele junge Chinesen kritisch über das bleierne Gesellschaftsklima, seit Präsident Xi Jinping an der Macht ist: „Wir können einfach nicht mehr so offen reden. Leute wie ich, die eigentlich nur das beste für unser Land wollen, fragen sich irgendwann: Wieso können wir keine offenen Informationen im Internet empfangen?“ Waren Google, Facebook oder die New York Timesvor zehn Jahren noch offen zugänglich, sind diese längst gesperrt. Nur wer eine per Gesetz illegale VPN-Software besitzt, kann sich frei informieren – auch über den Virusausbruch.

    Die Regierung versichert: „Den Kampf gegen das Virus werden wir letztendlich gewinnen.“

    Am Montagmorgen lädt das staatliche Informationsbüro zur Pressekonferenz. Nur einen Steinwurf vom Platz des himmlischen Friedens entfernt finden sich über 200 Journalisten mit Gesichtsmasken in einem pompösen Raum ein: marmorne Säulen, hohe, mit Stuck verzierte Decken. Regierungsvertreter in Anzug und Krawatte berichten über die Versorgungslage in den Quarantäne-Gebieten.

    Die nächste Stunde soll die Effizienz einer staatlich gelenkten Wirtschaft verdeutlichen, die Beachtliches unternimmt, um das Virus einzudämmen: Dutzende Unternehmen haben trotz der Neujahrsferien ihre Produktion aufgenommen, um Wuhan mit Gesichtsmasken und Schutzanzügen zu versorgen. Mehrere landwirtschaftsstarke Provinzen beliefern die Gebiete mit Reis und frischem Gemüse. Systematisch werden Gesundheitschecks im öffentlichen Raum installiert, zudem sämtliche Ferntransportmittel im Land täglich desinfiziert. Die Kernaussage spricht jeder der Ministerialbeamten am Ende seines Vortrags aus: „Den Kampf gegen das Virus werden wir letztendlich gewinnen.“

    Wie tiefgreifend jener Kampf den chinesischen Alltag verändert, beweist ein Blick auf die gespenstisch leeren Straßen in Peking. Sämtliche Tempel und Palastanlagen sind geschlossen. Die wenigen Restaurants, die noch Gäste empfangen, haben vor ihren Türen provisorische Stände aufgebaut: Wegen der ausbleibenden Kundschaft verscherbeln sie ihre Vorräte, bevor diese verderben. In den meisten Wohnanlagen sollen die Menschen keine Besucher mehr hereinlassen – egal ob Essenskuriere oder Freunde.

    Universitäten, Schulen und Kindergärten sind bis auf Weiteres geschlossen. Die meisten Unternehmen haben ihren Mitarbeitern eine Woche freigegeben oder Homeoffice verordnet. In Bayern bleibt auch die Zentrale des Autozulieferers Webasto in Stockdorf geschlossen. Dort hatten sich nach dem Besuch einer Chinesin sieben Mitarbeiter mit dem Erreger angesteckt, außerdem zwei Kinder eines Infizierten. Man habe beschlossen, „dass ein Großteil der mehr als 1000 Mitarbeiter weitere neun Tage von zuhause arbeitet“, erklärte Webasto-Vorstandschef Holger Engelmann.

    Wer in Peking die U-Bahn nehmen möchte, bekommt einen Temperaturscanner an die Stirn gehalten, der aussieht wie eine kleine Handfeuerpistole. In den Zügen, die zu Stoßzeiten normalerweise berstend voll wären, sitzen an diesem Montag um 9 Uhr nur eine Hand voll Menschen. Manche tragen neben den Gesichtsmasken auch Sonnenbrillen, um ihre Augen vor dem Erreger zu schützen. Auf den Displays an den Zugwänden erklärt ein Nachrichtensprecher, wie man Atemschutzmasken fachgerecht ans Gesicht legt: „Ebenfalls wichtig ist die Hygiene: Es ist gar nicht so leicht, sich wirklich gründlich die Hände zu waschen...“

    Timo Balz ist seiner Frau wegen in Wuhan geblieben

    Und doch ist der Alltag in Peking nicht mit dem im Coronavirus-Epizentrum Wuhan zu vergleichen. In der Elf-Millionen-Metropole fahren gar keine U-Bahnen mehr, die Stadt ist vollständig abgeriegelt. Timo Balz stammt aus Stuttgart, seit zehn Jahren lebt er in Wuhan und lehrt an der dortigen Universität. Am Samstag hätte Balz in den Bundeswehr-Airbus „Kurt Schumacher“ steigen und zusammen mit 124 Passagieren nach Deutschland zurückkehren können. Doch der 45-Jährige ist geblieben – vor allem wegen seiner chinesischen Frau, die er möglicherweise hätte zurücklassen müssen. Schätzungsweise eine Hand voll Deutsche ist noch in der Region. „Momentan sind wir wirklich ein bisschen nervös“, sagt Balz.

    Inzwischen hat man ihm mitgeteilt, dass das Coronavirus nun auch in seiner Apartmentsiedlung angekommen ist. Vier Bewohner sollen sich infiziert haben, einer gestorben sein. „Für uns bedeutet das, erstmal zuhause bleiben und auf die täglichen Spaziergänge verzichten“, sagt Balz, der zwei Kinder im Schulalter hat: „Denen dürfte schon bald die Decke auf den Kopf fallen.“

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